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Das Mysterium: Roman

Das Mysterium: Roman

Titel: Das Mysterium: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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rieb sich das Kinn. Würde ein Student der Rhetorik die Antwort wissen?
    »Wir kombinieren hier zwei Prämissen«, sagte William, »Obersatz und Untersatz, und das ist möglich, weil ihnen ein Mittelbegriff
     gemeinsam ist. Aber nicht alle Schlußformen sind zulässig. Im Hundebeispiel liegt ein Fehlschluß vor, weil man nicht sagen
     kann: Der da ist dein Vater, also ist er dein. Das Prädikat ›dein‹ bedeutet in der Wortverbindung ›dein Vater‹ nicht, daß
     der Vater dein Besitz ist. Allerdings bedeutet es einen Besitz, wenn ich sage: Dieser Hund ist deiner. ›Dein‹ wird also in
     dem einen Satzgefüge anders verstanden als im anderen. Und doch können wir uns ohne Mißverständnisse verständigen. Ist das
     nicht erstaunlich?«
    »Allerdings. Ihr seid ein überaus kluger Mann!« Der Boden war bereitet. »Sagt, vielleicht könnt Ihr mir noch in einer anderen
     Frage helfen. Habt Ihr von einem Geheimbund gehört, dessen Mitglieder dieses Handzeichen machen, um sich zu erkennen?« Nemo
     legte vor dem Bauch die kleinen Finger aneinander.
    »Die Reinen«, sagte der Engländer und schwieg. Das Wort hing wie ein Fluch in der Luft. »Wer seid Ihr wirklich?«
    »Student, wie ich gesagt habe. Was tun die Reinen?«
    William musterte ihn. »Ihr seid in Wahrheit wegen dieser Frage gekommen. Ihr habt mich getäuscht.«
    »Ich … ich brauchte Rat.« Er hatte das Gefühl, aus Glas zu sein. Der Gelehrte durchschaute ihn, er blickte mitten hinein in
     sein Innerstes. Er konnte diesen Blick nicht ertragen. »Ich wollte Euch nicht erzürnen. Bitte, vergebt mir!«
    »Ich warne Euch. Haltet Euch fern von den Reinen. Es sind Dualisten. Sie lehnen Aristoteles ab, folgen Platon, aber nicht
     in einer philosophischen, sondern in einer tödlichen Art.«

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    Der Splitter saß tief im Fußballen, Vizenz konnte ihn sehen unter der Hornhaut, ein dunkler Strich war es, der in seinem Fleisch
     verschwand. Wenn er nicht so wehleidig wäre! Bei jedem Schritt stach ihn der Splitter, Vizenz humpelte seit dem Morgen. Ob
     Menschen Schmerz verschieden stark empfanden? Dann gehörte er zu der bedauernswerten Gruppe, die nahezu Unerträgliches zu
     erleiden hatte.
    Du bist Inquisitor! schalt er sich. Er nahm das Messer fest in die Hand, um die Klinge in den Ballen zu bohren. Aber alles,
     was ihm gelang, war, daß er die unempfindliche obere Schicht der Hornhaut ritzte. Zitternd legte er das Messer weg.
    Und wenn er den Splitter herauspreßte, wenn er die Daumen ansetzte und allen Mut zusammennahm? Er drückte zu. Einem glühenden
     Schürhaken gleich jagte Schmerz in seinen Fuß. Vizenz keuchte auf.
    Der Splitter blieb unerreichbar. Nichts konnte er tun, er war dem Plagegeist ausgeliefert. Die Vorstellung, daß das spitze
     Holz mit jedem Schritt tiefer in sein Fleisch eindrang, trieb ihm den Schweiß auf die Stirn.
    Verzweifelt nahm er das Messer und schnitt. Er stöhnte auf, bebte am ganzen Körper. Mit den Fingernägeln griff er das Ende
     des Splitters. Es ragte aus der blutenden Wunde. Er zog, verlor es, faßte nach und zog erneut. Der Splitter kam heraus.
    Vizenz atmete auf und besah sich die blutige Spitze. Dann schnippte er sie in die Glut des Kamins. Er war stolz auf sich.
     Wieviel Überwindung ihn diese Tat gekostet hatte! Endlich konnte er die hinausgeschobene Aufgabe angehen und seine Spitzel
     aufsuchen.
    Er zog eine Handvoll Stroh aus dem Bettsack und füllte sie in den rechten Stiefel. Das Stroh würde das Blut aufsaugen. |56| Den linken Stiefel zog er rasch an, in den rechten schob er behutsam seinen wunden Fuß. Er machte ein paar Schritte zur Probe.
     Wenn er rechts nur mit der Ferse auftrat, ging es.
    Konnte er die Glut zurücklassen? Der Wassereimer stand bereit zum Ablöschen, aber er entschied sich, die Asche glühen zu lassen.
     So würde noch ein wenig Wärme im Zimmer sein, wenn er zurückkehrte.
    Er nahm den Umhang vom Haken, legte ihn sich um und trat nach draußen. Im Kaiserhof hatte es heute eine große Feier gegeben.
     Einer seiner Spitzel war dabeigewesen. Er würde viel zu berichten haben. Immer mehr Ketzer scharte der Kaiser um sich, Männer,
     an die Vizenz nicht herankam, die ungehindert ihr Gift verspritzen konnten. Aber er sammelte, er bereitete Akten vor. Eines
     Tages würde der Kaiser fallen. Er, Vizenz, war bereit. Es würde einen großen Ketzerprozeß geben.
    Die gekalkten Hauswände der Augsburger Straße leuchteten rötlich im Licht der untergehenden Sonne. Eine Familie reinigte

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