Das Mysterium: Roman
schneller!«
Der Engländer konnte nicht schneller. Immer weiter blieb er zurück. Es gab Vizenz zusätzliche Kraft. Mit herrischer Gebärde
trieb er die Krämer auseinander, die Kräuterhändler, |158| die Lebkuchenverkäufer, jene, die auf Bauchläden Gürtelschnallen verkauften. Er drängte sich an Tuchscherern vorüber, an Seilern
und Mühlknechten. Nichts wußten diese Menschen von der Gefahr, in der die Stadt schwebte!
Vizenz sah in die Höhe. Immer noch waren die zwei Westtürme der Peterskirche eingerüstet. Die Kirche würde viele weitere Jahre
eine Baustelle bleiben. Erst 1294 war sie eingeweiht worden, eine herrliche große Basilika, finanziert durch Ablaßgelder.
Dann hatte das Feuer sie zerstört. War das nicht, übertragen gesehen, das Schicksal, das der Stadt drohte? Amiel von Ax legte
Feuer. Was er zerstörte, würde schwer wieder aufzurichten sein. Sie mußten ihn niederwerfen, bevor er die Fackel ins Gebälk
hielt.
Obwohl das Rechthaus noch nicht zu sehen war, roch er bereits das frische Backwerk. Im Rechthaus befanden sich im Erdgeschoß
die Brotbänke, vierunddreißig Verkaufsplätze für Brot und Backwaren. Er bemitleidete die Amtsleute, die im Obergeschoß den
ganzen Tag diesen Duft ertragen mußten, während sie arbeiteten.
»Kommt schon!« rief er und bog in die Straße nach Salzburg ein. Er unterquerte den Bogen des Talburgtors, schob sich durch
die Menschenmeute, die sich am Zolltisch staute. Das Rechthaus stand neben der Brücke über den Pfisterbach, prächtig, kaum
zwanzig Jahre alt mit starker Fassade aus weißgetünchten Steinen. Über der Flügeltür prangten kupferne Lettern:
domus praetorialis.
Hier wartete er, bis ihn William erreichte. Gemeinsam schritten sie auf das Rechthaus zu. »Der Hauptmann«, sagte Vizenz. »Reden
wir zuerst mit ihm. Er muß Amiel festsetzen.«
Hauptmann Ermenrich saß vor dem Rechthaus an einem Tisch, ihm gegenüber ein dunkelhäutiger Mann, in fremdartige, bunte Tücher
geschlungen. Sie spielten Schach. Nun, das Spiel würde ein rasches Ende finden.
William Ockham griff nach Vinzenz’ Arm und hielt ihn fest. Wollte er erst Atem schöpfen, ehe sie die beiden ansprachen? Vermutlich.
Vizenz ließ ihn gewähren und blieb stehen.
|159| Der Dunkelhäutige wies auf eine Figur. »Wie nennt Ihr diesen?«
»Läufer«, erklärte der bärtige Hauptmann.
»Aus dem
Ualfil
, dem Elefanten, wurde ein Mensch bei Euch. Warum nennt Ihr ihn Läufer?«
»Man könnte sagen, weil auf einem Schlachtfeld dem Heeresführer Boten zur Seite stehen. Aber das würde die Sache überbewerten.
In Italien heißt er Fahnenträger, in Frankreich Narr, in England Bischof. Es ist nicht so wichtig.«
Der Dunkelhäutige wog den Kopf. »In meinem Land ist es sehr wohl wichtig. Wir haben dieses Spiel erfunden.« Er setzte seinen
Turm nach vorn und schlug einen Bauern. »Wie nennt Ihr diesen?« Er tippte auf den Turm.
Der Hauptmann lachte. »Es ist der Turm.« Er setzte seinen Springer.
»Ein Turm? Wie kann sich ein Turm bewegen? Bei uns ist es das
Rukh
, das Kamel.« Der Dunkelhäutige wies auf die Königin. »Und was hat die Frau auf dem Schlachtfeld verloren? An ihre Stelle
gehört der
Fers
, der Wesir.«
William Ockham zog Vizenz beiseite. »Es ist zwecklos. Er wird dem Mord nicht nachgehen.«
Was sagte er da? »Ermenrich ist der Hauptmann dieses Viertels, er muß den Mörder ausfindig machen und ihn stellen. Das wird
er auch tun. Ich arbeite seit Jahren mit ihm zusammen, er hat nie gepfuscht.«
Der Engländer schüttelte den Kopf. »Er wird sich um den Mord nicht kümmern.«
»Woher wollt Ihr das wissen?«
»Er erwartet uns. Und er ist fest entschlossen, den Mord nicht zu verfolgen. Ihr habt mir gesagt, daß Ihr Amiel von Ax diese
Nacht nicht gefangennehmen konntet, weil er ein gewiefter Jurist ist. Meint Ihr, ein Mann wie er würde sich durch einen unbedachten
Mord alles verderben? Er hat das Mädchen gesehen, er weiß also, daß er heute verklagt werden wird. Und er hat Vorsorge getroffen.«
»Auf welche Weise?«
|160| »Er gebraucht den Hauptmann als Werkzeug. Habt Ihr Euch das Schachspiel angesehen? Hauptmann Ermenrich ist offenkundig ein
Kenner, sonst wüßte er nicht, wie die Figuren in Frankreich, England und Italien heißen. Wenn Ihr Euch aber das Spielfeld
anschaut, seht Ihr, daß es keine fünf Züge dauern wird, und er ist matt gesetzt. Dennoch lacht er und konzentriert sich nicht.
Er spielt wie ein
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