Das Mysterium: Roman
Seele eines Mannes wiedergeboren
zu werden. Selbst die Seele einer Perfecta verwandelt sich auf dem Weg in den Himmel in die Seele eines Mannes. Die sieben
oder neun Schritte können auch über Tiere laufen. Man wird als Kröte, als Esel geboren. Denkt in Zukunft daran! Tötet keine
Tiere! Befreit Mäuse aus der Falle. Laßt die Mücken an eurer Brust saugen, und wartet geduldig, bis sie fett geworden sind
vom Blut und wieder auffliegen. Es steckt eine Engelsseele in ihnen!«
»Aber wie gelangt die Seele in einen neuen Körper?«
»Stirbt jemand, dann verläßt sein Geist den toten Körper und fliegt zu einem neuen Körper, so schnell, daß er bei Regen auf
dem Weg von der Leiche in Rom bis zum neu gezeugten Menschen in München nur von drei Wassertropfen benetzt wird.«
»Woher wißt Ihr das?« fragte Hauptmann Ermenrich. »Wer hat es Euch kundgetan?«
»Ein Gerber starb. Seine Seele verließ den Körper und bewohnte fortan den eines Pferdes. Ein Edelmann ritt das Pferd. Eines
Nachts wurde er von Feinden verfolgt und ritt über Felsen und Steine. Da blieb das Pferd mit einem Huf zwischen zwei Steinen
stecken. Als es ihn wieder herauszog, blieb das Hufeisen in den Steinen zurück. Jahre später starb das Pferd, und seine Seele
wanderte in den Körper des großen Autier. Er kam mit mir und anderen Schülern an der Stelle vorbei, an der er als Pferd sein
Hufeisen verloren hatte, und erzählte uns von der Begebenheit. Daraufhin suchten wir zwischen den Steinen nach dem Hufeisen
und fanden es.«
Nemo sah sich die Gesichter an. Sie glaubten Amiel. Er eröffnete ihnen eine neue Welt, eine Welt der Geister, Seelen und Engel.
»Ich habe die Vollmacht, Sünden zu vergeben, zu binden und zu lösen.« Der Perfectus wendete sich einer der Frauen zu. »Höre
auf, dich zu betrinken.«
Sie fuhr zusammen.
|186| Er sah den Hauptmann an. »Du weißt, was Ehebruch bedeutet? Beende deine Beziehungen zu verheirateten Frauen.«
Ermenrich stiegen Tränen in die Augen. Er nickte. »Das will ich tun.«
Amiels Blick fiel auf Nemo. Er sagte: »Dein Leben ist ein einziger Betrug. Du belügst dich selbst. Stelle dich der Wahrheit!«
Du zuerst, dachte Nemo. Aber er nickte.
|187| Sommer 1356
Vater kaute an den letzten Bissen von Brot und Käse. Er pflückte die Krümel vom Tuch und steckte sie sich in den Mund. Dann
stockte er. Er sagte: »War das meine Henkersmahlzeit?«
»Das habe ich schwerlich in der Hand. Du tust so, als hätte ich dich hier in Ketten gelegt.«
Er flüsterte: »Wenn du mir glaubst, dann hilf mir zu fliehen!«
Ihm zu glauben, das war die eine Sache. Darum ging es ihr nicht mehr. Sie glaubte ihm. Aber konnte sie die haarsträubenden
Dinge gutheißen, die er berichtete? Hatte er nicht den Kerker verdient, jeden Fingerbreit davon? Sie warf einen raschen Blick
nach oben. »Wie soll das gehen?« Auf das Täfelchen schrieb sie:
Wenn du versuchst zu fliehen, bringen sie dich um.
Er sagte laut: »Glaubst du mir denn? Darf ich weiter erzählen? Ach, früher hast du mir so gern zugehört. Ich hab dir von König
Drosselbart erzählt, von Artus und Merlin, von Siegfried, von der grünen Mume, vom Hasenkönig. Kannst du deinem alten Vater
noch ein wenig Zeit geben? Laß mich weiter erklären.«
Erst wenn sie haben, was sie haben wollen
, schrieb er.
Sie hielt das Täfelchen an die Fackelflamme und ließ die Wachsoberfläche zerlaufen. Sorgfältig blies sie darauf. Dann grub
sie mit dem Griffel hinein:
Was ist das?
Sie reichte ihm die Tafel. Laut sagte sie: »Ich verstehe nicht, wie du bei Amiel bleiben konntest. Du hast doch gewußt, daß
er ein schlechter Mensch ist!«
»Du weißt nicht, wie das ist, wenn man anderen nur gefällt, solange man sich verstellt. Ich wußte nicht, wer ich wirklich
war. Irgendwo auf dem Weg der Verstellungen habe ich mich |188| selbst verloren. Vielleicht hatte ich mich auch nie wirklich gekannt. Man braucht seine Eltern, man braucht einen Ursprung,
um zu wissen, wer man ist.«
Ja, dachte sie. Und deine Lügen haben meinen Ursprung zu Staub zerfallen lassen.
Er schrieb:
Ich erkläre es dir später.
Laut sagte er: »Wer bin ich? Das habe ich mich gefragt. Lebt jemand auf dieser Welt, der es weiß? Leben meine Eltern? Lebt
ein ferner Onkel?« Er rückte nahe an ihr Ohr und flüsterte: »Hast du Gold versteckt vor der Inquisition? Damit könntest du
die Wachen bestechen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Es sind zu viele«, raunte sie. »Ich habe ein
Weitere Kostenlose Bücher