Das Mysterium: Roman
Keine
Versuchung, keine böse innere Stimme würden ihn daran hindern.
Gelogen hast du außerdem, klagte ihn die Stimme an, als der Inquisitor dich in die Enge getrieben hat, hast du gelogen. »Aber
es war wie bei David«, erwiderte er. Auch David hat sich verstellt. Er hat sich verrückt gestellt, um Abimelech zu entgehen!
Diese Lüge und dieser Mord, sie waren ihm aufgezwungen |178| worden vom bösen Herrn der Welt. Er wollte rein sein, er war rein, er war Perfectus. Eben deshalb stellten ihm die Dämonen
Fallen. Sie wollten, daß er aufgab, daß er sich für zu schwach hielt, weil sie ihm einen Mord und eine Lüge abgenötigt hatten.
Einen Scheinmord, eine Scheinlüge. Schreckgespinste. Geistereien.
»Ich bin stark«, sagte er.
Er sah sich in der Mitte der Perfecti, Autier stand neben ihm und hielt das Buch über seinen Kopf, fragte: »Gelobst du, kein
Fleisch, keine Eier oder Käse oder tierisches Fett mehr zu essen? Keinen Eid zu schwören, nicht zu lügen, keinerlei körperliche
Begierden zu befriedigen – für den Rest deines Lebens?«
»Ich gelobe es.«
»Gelobst du, die Kirche der Reinen nicht aus Furcht vor Feuer oder Wasser oder vor einer anderen Todesart preiszugeben?«
»Ich gelobe es.«
»Du mußt den Geboten Gottes gehorchen und diese Welt hassen.«
»Das will ich.«
Das Buch berührte seine Stirn, und alle legten ihre Hände auf seinen Kopf. Autier sprach die Segenssprüche. Amiel küßte das
Buch. Da war er Perfectus geworden. Die anderen fielen vor ihm auf die Knie und erwiesen ihm die Ehre, selbst Autier, selbst
der große Autier.
Er öffnete die Augen. Die Fische dampften immer noch. Auf ihren Bäuchen lockte die gelbe, mit Kräutern verzierte Soße. Ihr
Duft aber erschien ihm nicht mehr verführerisch, er erkannte ihren wahren Charakter. Der Geruch der Soße biß ihn in die Nase.
Sie stank zum Himmel. Mit diesem billigen Trick wollten ihn die Dämonen fangen. Er durchschaute ihren Spuk.
»Nemo!« rief er.
Der Streuner trat ein. Sein Blick ruhte auf den Fischen. Er erkannte die Täuschung der Dämonen nicht.
|179| »Dich lockt die Speise, nicht wahr? Ich habe ihr widerstanden. Du kannst sie hinausschaffen. Tue mit ihr, wozu dich dein schwaches
Fleisch verführt. Ich werde dir danach vergeben.«
Die Augen des Streuners verrieten Gier, auch wenn er widerstrebend die Hände hob.
»Noch verstehst du sehr wenig«, sagte Amiel. »Aber du wirst heute zu abendlicher Stunde einer Versammlung beiwohnen. Dort
wirst du das Geheimnis der wahren Kirche erfahren. Fege diesen Raum und lüfte ihn. Dann verspritze einige Tropfen aus der
Phiole, die auf dem Bord über der Küchentür steht.« Er erhob sich. »Wenn nach Einbruch der Dunkelheit die ersten Gäste kommen,
begrüße sie und führe sie hierher. Ich bereite mich in meinem Zimmer darauf vor, zu euch zu sprechen.«
Es klopfte an die Tür. Nemo öffnete sie, ließ eine Frau ein. Er sagte: »Von Herzen willkommen. Amiel von Ax wird Euch bald
persönlich begrüßen. Bitte nehmt solange in diesem Raum Platz.« Er wies ihr den Weg.
Die Frau gab ihm zwei Stränge Wolle. »Für den Perfectus.« Sie setzte sich und schwieg.
Es klopfte erneut. Ein Mann gab ihm einen Viertelscheffel Mehl in einem guten, neuen Sack. »Für den Perfectus.« Er setzte
sich.
Es klopfte. Zwei Schwestern überreichten einen kleinen Beutel mit Minze. »Für den Perfectus.« Sie sagten es leise, ehrfürchtig.
Bald waren es acht Besucher. Es klopfte erneut. Nemo öffnete. Ein Schrecken durchfuhr ihn. Er blickte in die dunklen Augen
Hauptmann Ermenrichs. Die geheime Versammlung mußte verraten worden sein.
Aber der Hauptmann stand schweigend da und musterte Nemo mißtrauisch, dann ging er ohne Wort zu den anderen.
Er gehörte dazu? Der Hauptmann gehörte zu den Anhängern Amiels? Nemo verstand es nicht. Mit welcher Macht |180| zog Amiel die Menschen an sich? Und was meinten sie, wenn sie ihn »Perfectus« nannten?
Venk von Pienzenau kam. Er lächelte Nemo an. In seinem Blick sah man Haß und daß er Nemo den grausamsten Tod wünschte. Warum
gehorchte er Amiel? Er trug einen violetten Mantel mit braunem Pelzkragen. Gleich nach dem Betreten des Raumes zog er ihn
aus und überreichte ihn Nemo. »Für den Perfectus«, sagte er. Der Mantel mußte kostbar sein. Wohlhabenden Menschen fiel es
schwer, Geschenke zu machen. Sie brachten es nicht einmal übers Herz, einem Krüppel einen Heller in den Bettelnapf zu werfen.
Und doch
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