Das Mysterium: Roman
paar Schildgulden aus den Rechnungsbüchern gestrichen
und sie vergraben, aber die werden kaum für fünf Männer reichen. Mag sein, daß die Wachen käuflich sind, aber zu welchem Preis?
Es genügt, wenn ein einziger uns verrät!«
Er sprach wieder laut, als würde er ihr weiter aus der Vergangenheit berichten. »Ich hatte zwar das Zimmer bei Amiel. Trotzdem
bin ich immer wieder zur verfallenen Mühle gegangen, dahin, wo das Dach kaputt war und es hineingeregnet hat, wo Birken und
Büsche inmitten der Ruine wuchsen. Ich hatte da den Topf mit Geld versteckt. Wenn ich meine Münzen gezählt habe, hat mich
das beruhigt.«
Er flüsterte: »In der Nacht sind es weniger, mit Sicherheit. Wenn du in der Nacht kommst, mußt du nur zwei oder drei bestechen.
Versuche es!«
Sie nahm ihm das Täfelchen aus der Hand und schrieb darauf:
Ich denke darüber nach.
Komm heute nacht!
schrieb er.
Sie blickte ihn an. Er sah aus wie ein Toter, die Wangen eingefallen, der Leib kaum mehr als ein hautbespanntes Skelett. Aber
die Augen brannten, und sie flehten um Rettung. Dünne, kalte Finger griffen nach ihrem Arm.
Er flüsterte: »Ich habe nicht mehr lange Zeit. Als ich jung war, habe ich mich gefragt, ob man es spürt, wenn man bald stirbt.
Es ist wirklich so, Mathilde. Man spürt es. Ich möchte |189| mich nicht schlafen legen auf diesem feuchten Stroh. Ich weiß, wenn ich es tue, dann wache ich nicht wieder auf. Heute nacht!«
Er hatte Abscheuliches getan. Aber er war ihr Vater. Sie nickte. Am oberen Ende des Schachtes hörte sie die Klappe knirschen.
Natürlich, man konnte ihnen nichts mehr ablauschen und vermutete deshalb, daß sie Geheimnisse austauschten. Sie sah hinauf.
»Seid Ihr soweit?« rief der Kerkermeister und öffnete die Klappe ganz.
Staub rieselte herab. Mathilde mußte das Gesicht senken und blinzeln, bis die Augen den Staub hinausgespült hatten. »Ja«,
sagte sie.
»Geht beiseite! Der Korb!«
Sie trat an die Kerkerwand. Am zischenden Seil sauste der Korb heran. Er krachte auf den Boden. Mathilde stieg nicht ein.
Sie wendete sich ihrem Vater zu. Ausgemergelt wie er war, ob er nun Nemo hieß oder Kaufmann Neuhauser oder anders, er hatte
ihr zwanzig Jahre lang Gutes getan, war der zärtlichste, abenteuerlichste, beste Vater gewesen. Sie hielt die Fackel am ausgestreckten
Arm beiseite und schloß ihn in eine Umarmung. Es fühlte sich fremd an, Vater hatte sich anders angefühlt, weicher, größer;
jetzt war er hart und knochig. Aber er klopfte ihr auf den Rücken, wie er es immer getan hatte. Die Ketten rasselten dabei.
Sie stieg in den Korb. Während sie bereits hochgezogen wurde, hörte sie ihn leise sagen: »Ich danke dir.«
Das Seil knarrte. Wie war es für ihren Vater, im Dunkeln zurückgelassen zu werden? Mit ihr, Mathilde, schwebte das Fackellicht
nach oben, und wenn die Klappe zuschlug, war er allein mit der Finsternis.
Die Mauern des steinernen Grabs wurden enger. Dann folgte die Luke. Nachdem sie den Holzrahmen passiert hatte, kam der Korb
zum Stehen. Er schwankte leicht. An seiner Seite stand der Kerkermeister und bot ihr den Arm dar.
Diese Höflichkeit machte sie rasend. Er brachte ihren Vater |190| um! Sie stieß den Arm fort und kletterte mühsam aus dem Korb. Aber sie mußte freundlich zu den Wachleuten sein! Sie würde
heute nacht zwei von ihnen wiedersehen und würde versuchen, sie zu einer Tat zu überreden, die alle den Hals kosten konnte.
War es überhaupt wahrscheinlich, daß ein paar Gulden sie dazu brachten, die Stadt und ihre Familien aufzugeben und zu fliehen?
Hierbleiben konnten sie nicht, wenn sie einem Gefangenen zur Flucht verholfen hatten.
Sie sagte: »Vermißt Ihr das Sonnenlicht? Der Turm ist schattig, den ganzen Tag.«
Die Wachleute lachten unbeholfen.
»Wer bringt Euch Speise, wenn Ihr hungrig seid?«
Ein junger Wachmann sagte: »Den anderen bringen die Eheweiber was, und ich gehe rasch rüber ins Wirtshaus. Wenn der Kerkermeister
es erlaubt.«
»Kommt«, sagte der Kerkermeister und schob sie weiter. Auf der Treppe nach oben zischte er: »Ihr bringt sie durcheinander.
Laßt die Männer in Ruhe.«
Draußen blieb sie stehen. Sie fühlte sich schuldig, weil sie frei war und frische Sommerluft atmete.
»Bringt nächstes Mal wieder einen Weinkrug und ein wenig Geld mit«, sagte der Kerkermeister hinter ihr.
Sie nickte. »Ich verspreche es.« Vater würde womöglich nie wieder das Tageslicht sehen. Er würde nicht diesen Hahn
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