Das Mysterium: Roman
Er ist alt und schwach, und an den Eisenschellen eitert
sein Fleisch.«
»Es klingt sicher grausam in Euren Ohren, Jungfrau, aber er hätte sich das überlegen sollen, als er der Kirche und dem rechten
Glauben den Rücken zugekehrt hat.«
»Und wenn er jetzt widerruft?«
»Dafür ist es zu spät.«
»Was muß er tun? Ich meine, es muß doch etwas geben, das er tun kann!« Wenn nicht bald etwas geschah, würde sie den Turm wieder
verlassen müssen. Wie konnte sie noch Zeit gewinnen? »Ich weiß, daß er bald stirbt. Vielleicht schon heute nacht. Bitte, darf
ich ihn noch einmal sehen? Ein letztes Mal?«
»Ihr wolltet mir etwas mitbringen. Ich bin kein Freund von gebrochenen Versprechen.«
»Ich werde Wein holen und Geld, aber ich habe Angst, daß er dann schon tot ist. Kann ich ihn vorher sehen? Ich bitte Euch!«
»Ihr wart doch gerade erst bei ihm.«
Es klopfte an der Tür.
Der Kerkermeister rollte die Augen. »Was ist heute nur los!« brummte er und öffnete.
Der blonde Junge stand da. Er sagte: »Ich möchte eine Meldung machen.«
»Und was willst du melden, Kleiner?«
»Ich weiß, wo sich der alte Mann versteckt, den die Inquisition sucht.«
»Hast du ihn gesehen?«
»Ja. Ich kann Euch zeigen, wo er ist.«
Der Kerkermeister rief die Treppe hinunter: »Zu den Waffen! Ich will euch gerüstet hier oben haben, und zwar sofort!« Der
laute Schrei hallte von den Turmwänden wider. Der Hals des Kerkermeisters wurde rot.
»Bekomme ich eine Belohnung?« fragte der Junge.
»Ein Stück Honigkuchen sollst du haben, meinetwegen.«
|194| »Zwei.«
»Dann zwei Stück Honigkuchen.«
Die Wachen kamen die Treppe hinaufgepoltert. Im Gehen schnallten sie sich die Waffengurte an, zogen Armschienen zurecht, schoben
Dolche in die Stiefelschäfte.
»Dieser Junge hat Amiel gefunden«, sagte der Kerkermeister. »Der Alte darf uns auf keinen Fall durch die Lappen gehen.«
»Und die Gefangenen?«
»Ich bleibe hier. Mit der Frau werde ich alleine fertig. Jetzt geht, laßt euch vom Jungen den Weg zeigen! Schafft Amiel heran!
Das gibt eine stattliche Belohnung.«
Der Blondschopf ging voran, die vier Wachmänner folgten ihm. Hinter ihnen schloß der Kerkermeister die Tür. »Nun sind wir
allein«, sagte er.
Ein Kribbeln zog Mathilde über den Nacken. Seine Stimme klang anders als zuvor. Warum sah er sie so merkwürdig an?
Der Kerkermeister hob die Hände vor den Bauch und drückte die kleinen Finger aneinander. »Machen wir uns ans Werk«, sagte
er. »Bevor sie zurückkehren, solltet Ihr an einem sicheren Ort sein.«
Der kleine Mann führte sie bald von der Straße herunter, in die engen Gassen der Handwerker und Kleinkrämer. Hier waren die
Gesichter der Menschen schmutzig, und ihre Kleidung trug Flicken. Eine junge Frau, die ihren ausgemergelten, kranken Vater
stützte, fiel nicht sonderlich auf.
Vater ächzte bei jedem Schritt. Mit großen Augen sah er die Häuser an, an denen sie vorübergingen, die Menschen, die Hunde.
Es mußte ein beglückendes Gefühl sein, dem Tod von der Schaufel gesprungen zu sein.
Der Kerkermeister bog in eine Toreinfahrt ein. Sie durchquerten einen Hinterhof. Tropfende Wäschestücke hingen von zwei Leinen.
Ein Dreijähriger saß auf dem Boden und rupfte am Gras. Seine Schwestern jäteten Unkraut im Garten.
Ein weiteres Tor schloß sich an, und die Passage führte |195| abermals in einen Hof, kleiner als der vorhergehende. Hier drückten sich die Hütten von Knechten und Tagelöhnern an die Wände
der umliegenden Häuser. Neben einer der Hütten wölbte sich Jauche über die Ränder einer Sickergrube. Es stank nach Kot.
Der Kerkermeister hob an der Rückwand des Hauses, unter dem sie hindurchgegangen waren, eine Kellerklappe an. »Hier hinein«,
sagte er. »Bleibt da drin, bis es Nacht geworden ist. Dann geht zum Sendlinger Tor. Fragt nach einem Diener Amiels, die Wache
weiß es zu deuten.«
»Ihr verlaßt uns?« fragte Mathilde.
»Ich habe einen anderen Fluchtweg. So zwingen wir die Verfolger, sich aufzuteilen.« Er drückte vor dem Bauch die kleinen Finger
aneinander. »Der Herr richte und verdamme die Unvollkommenheiten des Fleisches.« Er verschwand durch das Hoftor.
Sie half Vater die dunkle Treppe hinunter und stieg erneut hinauf, um die Klappe zu schließen. Durch die Ritzen der Klappe
fiel spärliches Licht. Sie tastete sich die Stufen hinab. Unten fand sie den Vater an genau dem Platz stehen, wo sie ihn verlassen
hatte. »Nun wird
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