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Das Mysterium: Roman

Das Mysterium: Roman

Titel: Das Mysterium: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Kirche
     hat Kraft!« Er sah Venk von Pienzenau an.
    Nach kurzem Schweigen sprach er weiter. »Als man den großen Autier am 9. April 1310 vor Saint-Étienne verbrannte, hat er sich
     nicht geängstigt. Er wandte sich zur Menge hin und sagte ruhig: ›Wenn ich zu euch predigen dürfte, würde ich euch alle bekehren.‹
     Er trug ein weißes Opfergewand. Das Feuer fraß es ihm vom Leib. Es verzehrte die Stricke. Es ließ ihn am Pfahl zusammenbrechen.
     Ich war da. Diesen Anblick vergesse ich nie.«
    So endete man, wenn man Amiel folgte? Der Hauptmann, die Frauen, sie sahen ihn an mit dem Bedürfnis, furchtlos und heldenmütig
     zu sterben.
    »Die Inquisition hat die Leichname Vollkommener ausgegraben, solcher von uns, die ihnen bis zum natürlichen Tod entgangen
     waren, und hat sie durch die Straßen getragen, um |183| zu zeigen, daß die Häresie über das Grab hinaus wirkt, daß einem Häretiker der geweihte Boden verwehrt wird. Sie haben die
     Leichname öffentlich verbrannt. Es war eine Drohung an die Verborgenen, daß auch sie noch an die Reihe kommen würden. Aber
     wir haben keine Angst. Ich fürchte mich nicht vor diesen Wölfen.«
    Amiel breitete die Arme aus. Er strahlte. »In Mirepoix gab es einst ein Konzil von sechshundert Reinen. Diese Zeiten werden
     wiederkommen! Wir werden nicht ewig im verborgenen bleiben. München wird der Anfang sein. Von hier aus wird ein Sturm der
     Reinheit über das ganze Kaiserreich ziehen. Ich bin auserwählt, eine neue Kirche zu errichten. Eine Kirche ohne Sünde.«
    Unvermittelt sah er Nemo an. »Hole Brot«, sagte er, »und ein Messer.«
    Nemo stand auf. Als er mit Brot und Messer aus der Küche wiederkam, war Amiel verändert: Er trug ein Tuch um den Hals, eine
     Stola, wie ein Priester. Er nahm das Brot und das Messer entgegen, murmelte ein Gebet. Dann zerteilte er das Brot. Jedem der
     Anwesenden gab er ein Stück davon. »Dies ist geheiligtes Brot«, sagte er. »Nehmt und eßt.«
    Sie aßen, auch Nemo. Das Brot schmeckte anders. Es war weicher, es war süßer. Der Perfectus hatte es auf irgendeine Weise
     verändert.
    »Nun hole den Weinkrug und einen Becher.«
    Nemo erhob sich. Auf dem Weg in die Küche hatte er das Gefühl, die Rippenschmerzen hätten nachgelassen. Heilte ihn das Brot
     auf wundersame Weise? Er brachte Krug und Becher und gab sie Amiel.
    Der Perfectus goß Wein in den Becher und reichte ihn Venk von Pienzenau. »Möge Gott dich segnen.«
    Venk trank.
    Der Perfectus reichte den Becher der Frau, die neben Venk saß. »Möge Gott dich segnen.«
    Sie trank.
    So ging es weiter, bis die Reihe an Nemo kam. Der Perfectus |184| sagte zu ihm: »Nimm und trink. Der Herr richte und verdamme die Unvollkommenheiten des Fleisches.«
    Da stand Venk auf. »Es ist Dienstag«, sagte er, »und die Ratsglocke hat geläutet.«
    »Was meinst du damit?« fragte Amiel.
    »Ich bin einer der
Zwölfer
, Amiel, und muß der Ratssitzung beiwohnen.«
    »Was geschieht, wenn du zu spät erscheinst?«
    »Wer vor dem Ende des dritten Läutens nicht kommt und die erste Frage des Sprechers an die Ratsherren verpaßt, zahlt sechs
     Pfennige Buße, wer gar nicht auftaucht, zahlt zwölf Pfennige. Geschieht das zu oft, kann man sein Amt verlieren.«
    »Das ist alles?«
    »Man verliert das Badgeld und Trinkgeld, außerdem Geld für den Jahresrock und weitere Vergünstigungen. Warum fragt Ihr danach,
     Perfectus?«
    »Du vergißt das Wichtigste, Venk von Pienzenau! Denkst du, die Pfennige kümmern mich? Denkst du, es kümmert mich, ob du dein
     Amt verlierst? Du mußt pünktlich zur Ratssitzung erscheinen, damit unser Treffen geheim bleibt! Bringe uns nicht noch einmal
     in Gefahr, hast du mich verstanden?«
    Nemo erwartete, daß der Edle eine harte Erwiderung geben würde. Aber er schwieg, neigte den Kopf und verließ den Raum. Das
     war die Kunst Amiels von Ax. Er zeigte keine Furcht, auch wenn ihm jemand überlegen war. Die Menschen gehorchten ihm, einfach,
     weil er es voraussetzte, ohne einen einzigen Augenblick daran zu zweifeln.
    »Jeder von euch ist ein Engel«, sagte Amiel. »Einer von denen, die mit dem dunklen Fürsten Luzifer aus dem Himmel verstoßen
     wurden. Und ihr könnt nur zurückkehren, wenn ihr im Körper eines Perfectus sterbt.«
    »Heiliger Perfectus«, sagte eine Frau, »darf ich eine Frage an Euch richten?«
    »Nur zu.«
    »Was geschieht mit uns, wenn wir sterben?«
    |185| »Ihr wandert durch sieben oder neun Körper. Die Erlösung für die Seele einer Frau ist, als

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