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Das Mysterium: Roman

Das Mysterium: Roman

Titel: Das Mysterium: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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hören,
     der mitten am Tag krähte, würde die Spatzen nicht sehen, die sich laut tschilpend auf der Straße um einige heruntergefallene
     Körner balgten.
    Hinter ihr klappte die Tür. Der Riegel knirschte. Mathilde drehte sich um. Sie sah am Turm hinauf. Bei den Münchnern hieß
     er, seit sie denken konnte, der Turm beim Weinwirt Krug. Die Steine waren dunkel und nur grob behauen, und doch war es einer
     der größeren Türme in der Mauerbefestigung. Von seinem Fundament aus betrachtet, füllte er den Himmel aus wie eine Festung.
     Je länger Mathilde an ihm hinaufsah, desto stärker wurde ihr Empfinden, daß er im Begriff war, auf sie zu stürzen.
    |191| Ein Fuhrwerk hielt neben ihr. Männer sprangen herab und begannen, Bündel mit Schwertern auszuladen. Sie trugen sie die Außentreppe
     des Turms hinauf. In seinem Inneren befand sich die städtische Rüstkammer. Über dem Vater lagerten also Kettenhauben und Schilde
     und Brustpanzer und Truhen mit Armbrustbolzen. Bedeutete es, daß dort in der Nacht eine weitere Wache stand?
    Was war ein einzelnes Menschenleben dieser pulsierenden, strömenden Stadt wert? Niemand kümmerte sich um ihren Vater, obwohl
     er ein angesehener Kaufmann gewesen war. Das Leben ging weiter, als sei nichts geschehen. Die entstandene Lücke füllten andere,
     im Handumdrehen.
    Sie wandte sich ab und machte sich auf den Weg nach Hause. Sollte sie Mutter von dem Fluchtplan erzählen? Besser war es, sie
     behielt die Sache für sich.
    Ein flachsblonder Junge hielt sie an. »Bitte, ich muß mit Euch sprechen.«
    Sommersprossen übersäten seine Wangen. Er hatte das freche Gesicht eines Lügners. Ihr Instinkt warnte sie. Sie lachte bitter
     in sich hinein. Der unfehlbare Instinkt. Jahrelang hatte er versagt, was ihren Vater anging. Nun versuchte er, alles nachzuholen,
     indem er sie vor allem und jedem warnte. Vor dem Kerkermeister, vor dem freundlichen Ratsherrn, der sie noch in ihrem Haus
     wohnen ließ, vor einem kleinen blonden Jungen, der doch nur eine Botschaft weitergab. »Ja?« sagte sie.
    »Ein alter Mann hat mir gesagt, ich soll Euch sagen, Ihr sollt wieder zurück in den Turm gehen. Er will Euch helfen, daß Kaufmann
     Neuhauser freikommt.« Dem Jungen fehlte ein Schneidezahn.
    »Wie sieht der alte Mann aus?«
    »Er hat weiße Haare, bis hier.« Der Junge zeigte auf seine Schultern. »Und schöne grüne Augen.«
    Plötzlich fiel alles an den vorgesehenen Platz. Es war ihr, als würde sie die Straße, die Häuser, den Jungen klarer sehen.
     Ihre Gedanken waren mit einemmal messerscharf. Der Greis, der im Lagerhaus nach Nemo gefragt hatte, war Amiel von |192| Ax. Hatte nicht Vater erwähnt, daß er grüne Augen besaß? Jetzt wollte er wiedergutmachen, was er angerichtet hatte.
    Andererseits … wiedergutmachen? Dieser Mann? Nein. Er mußte aus anderen Beweggründen handeln. Wollte er erlangen, was die
     Inquisition von ihrem Vater zu erpressen versuchte? »Wann soll ich in den Turm gehen?«
    »Jetzt gleich.«
    Manche Ziele konnte ein Fernkaufmann nur erreichen, wenn er mit seinem Konkurrenten zusammenarbeitete. Vater hatte sowohl
     mit der Handelsgesellschaft Drächsel als auch mit der Handelsgesellschaft Wadler zeitweise gemeinsame Unternehmungen geführt.
     Amiel von Ax hatte verloren, wenn Vater in den Händen der Inquisition blieb. Wahrscheinlich wollte er ihn tatsächlich befreien.
     »Was wird er tun, wenn ich im Turm bin?«
    »Das weiß ich nicht.«
    Es war kein weiter Weg, sie war gerade erst um eine Häuserecke gekommen. Sie ging zurück. Vor der Tür zum Turm blieb sie stehen.
     Das Fuhrwerk war fort. Hatten die Männer so schnell die Schwerter ausgeladen?
    Sie klopfte.
    Es dauerte lange, ehe der Kerkermeister öffnete. »Ihr? Was gibt es?«
    »Ich muß mit Euch sprechen.« Was sollte sie sagen? Irgendwie mußte sie ihn hinhalten. »Darf ich eintreten?«
    Er nickte. Hinter ihr schloß er die Tür. In einer Halterung an der Wand hing eine Fackel. Ihre Flamme ließ rings um den Kerkermeister
     Schatten tanzen. Sie zuckten rechts, zuckten links, vergrößerten und verkleinerten sich.
    »Meinem Vater geht es nicht gut«, sagte sie.
    »Niemandem geht es im Kerker gut.«
    »Könntet Ihr möglicherweise … Wäre es möglich, daß Ihr ihm trockenes Stroh gebt? Und könntet Ihr ihm die Ketten abnehmen?«
    Der Kerkermeister schüttelte den Kopf. »Ihr wißt, es ist Teil des Urteils, daß er in Ketten liegt.«
    |193| »Wohin soll er fliehen? Ich meine, was kann denn schon passieren?

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