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Das Mysterium: Roman

Das Mysterium: Roman

Titel: Das Mysterium: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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geschlafen hatte, hatte sie doch längst kein Anrecht auf seine fortwährende Hilfe! Sicher fiel sie ihm zur Last.
    Sie öffnete die Tür. William stand vor dem Schreibpult. Eine geflochtene Matte unter seinen Füßen schützte vor der Kälte.
     Er schnitt mit einem kleinen Messer einen Gänsekiel zurecht. »Adeline, schön. Die Bracke folgt dir auf dem Fuß, was?«
    Sie sah zu Boden. »Bitte, es tut mir leid, daß ich Euch störe. Ich habe kein Recht dazu, Euch andauernd zur Last zu fallen.
     Was kümmert Euch ein Kammermädchen? Aber ich –«
    »Augenblick«, unterbrach er sie. Er legte Feder und Messer fort. »Ich glaube, wir müssen erst einmal etwas klarstellen. Glaubst
     du, daß Gott dich zu ewigem Leben erlöst?«
    »Ich wage es, darauf zu hoffen.«
    »Glaubst du, daß Gott das aus Liebe tut?«
    Sie zögerte. Liebte sie Gott? Ein Kammermädchen ohne große Fähigkeiten, ohne Bedeutung, ohne Namen? Aber er liebte ja selbst
     die Ehebrecherin. Sie nickte.
    »Also weißt du es. Gott liebt dich.«
    |201| »Aber hier auf Erden – wenn ich sterbe, wird es niemanden stören. Ihr seid ein berühmter Gelehrter, was Ihr schreibt, lesen
     der Papst und der Kaiser und viele andere wichtige Menschen. Was tue ich? Ich wasche Wäsche. Das kann auch jemand anderes
     tun. Ich sollte Euch nicht stören.«
    Falten gruben sich in seine Stirn. »Was du tust, sagt nichts über deine Bedeutung aus. Wenn wir sprechen, benutzen wir Namen
     wie William in Verbindung mit Verben, also: William sagt. Wir brauchen aber auch Adverbien, Konjunktionen, Präpositionen.
     Dringend brauchen wir sie! Es ist ein Unterschied, ob ich sage: Wenn der Kaiser kommt, läute ich die Glocke. Oder: Falls der
     Kaiser kommt, läute ich die Glocke. Vielleicht denkst du, das Wort ›Kaiser‹ hat mehr Gewicht, aber glaube mir, ohne Wörter
     wie ›falls‹ oder ›wenn‹ kämen wir nie im Leben aus, auch wenn wir ihnen die meiste Zeit über nur wenig Beachtung schenken.
     Du bist auf dieser Welt kein großer Name, das mag sein. Man spricht nicht über dich in Paris oder in Oxford, wie man über
     mich spricht. Du bist eine Konjunktion, ein Wort, wie es ›wenn‹ eines ist. Was würde ein William Ockham ohne ›wenn‹ anfangen?
     Er wäre verloren.«
    Es fühlte sich an, als sei ein Kelch mit warmer Flüssigkeit in ihren Bauch geschüttet worden, auch wenn sie nicht bis ins
     letzte verstand, was William gesagt hatte. »Danke. Ihr seid gut zu mir.«
    »Warum bist du gekommen?«
    »Ich halte es nicht mehr aus. Auch hier nicht. Bei Mutter war es schlimm, weil wir allein waren, zwei wehrlose Frauen, das
     ging nicht. Aber selbst hier am Hof habe ich Angst. Ich kann so nicht mehr leben. In der Nacht kann ich nicht schlafen, und
     am Tage schrecke ich andauernd zusammen. Irgendwann wird er mich erwischen, ich weiß das. William, ich fürchte mich davor.
     Lieber töte ich mich selbst, als von ihm umgebracht zu werden.«
    »Ich kann dich nicht bei mir aufnehmen. Es gibt schon genug Gerüchte über mich. Die Leute vergessen, daß ich Franziskanermönch
     bin.«
    |202| Hoffentlich erfuhr er nie, daß sie die Schuld an den Gerüchten trug. »Das meine ich gar nicht. Es ist nur: Solange Amiel auf
     freiem Fuß ist, finde ich keinen Frieden.«
    »Du weißt, es hat sich als schier unmöglich erwiesen, ihm etwas nachzuweisen. Ich habe mit Venk von Pienzenau gesprochen,
     habe ihm gesagt, daß Amiel ein Mörder ist. Willst du seine Antwort hören? ›Jeder. Nicht Amiel.‹ Solche Suggestivkraft hat
     dieser Mann! Was wir brauchen, sind Zeugenaussagen. Ihm aber gelingt es, selbst gestandene Edelleute wie Venk von Pienzenau
     einzuschüchtern.«
    »Heißt das, ich bin verloren?« flüsterte sie.
    Er fuhr mit Daumen und Zeigefinger über die langen weißen Greifenbrauen und schwieg. »Vielleicht weiß ich einen Ausweg. Eine
     Sache können wir noch versuchen. Bist du bereit mitzuhelfen?«
     
    Der Mond hing riesig über den Bäumen am Horizont, wie ein Stern, der die Erde besuchte. Er war bedrohlich eingefärbt, fiebergelb.
     Amiel fror und schwitzte zugleich. Er schöpfte kurz Atem, dann schleppte er das Rehkitz weiter. Es zitterte in seinen Armen,
     die eingeknickten Beine, das Fell, der Kopf. Unaufhörlich blickte es ihn an, Entsetzen in den Augen.
    Er hatte versucht, den Armbrustbolzen aus seinem Leib zu ziehen, dieser aber war mit Widerhaken versehen, das Fleisch wollte
     ihn nicht hergeben. Wenn er ihn mit Gewalt herauszog, riß er dem Rehkitz den Leib auf. Es

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