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Das Mysterium: Roman

Das Mysterium: Roman

Titel: Das Mysterium: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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brauchte die Hilfe eines Baders.
    Die Stadttore waren mit Sicherheit bereits geschlossen. Er würde um die halbe Stadt herumlaufen müssen, bis zur kleinen Pforte
     auf der Südseite, die sie Zyfers Tor nannten. Dort würde man ihn gegen eine Gebühr hineinlassen.
    Der Wind blies kalt gegen seine schweißnasse Stirn und wehte unter den Umhang. Amiel fröstelte. »Bist du es, mein Sohn? Du
     kannst nicht sprechen, ich weiß. Aber keine Sorge. Ich kümmere mich um dich. Du wirst nicht sterben.« Das Kitz war noch jung,
     es konnte in jener Nacht geboren sein, in |203| der … Amiel drängte die Erinnerung beiseite, das blutige Beil, den Blick des Sterbenden. Dieses Rehkitz lebte, es zitterte
     unaufhörlich, und er konnte es retten.
    Einmal würde er die Kaiserlichen zur Rechenschaft ziehen für ihre Grausamkeit. Am besten den Kaiser selbst. Ja, der Kaiser
     sollte leiden wie dieses Rehkitz, das seine Jäger angeschossen hatten. Er würde dem Tod ins Auge blicken. Wenn er, Amiel,
     ihn dann rettete, würde Ludwig ihm für alle Zeit verpflichtet sein.
    Vor dem schwarzblauen Nachthimmel ruhten grau die Mauern Münchens. Fackeln schimmerten in großen Abständen darauf wie Leuchtkäfer.
     »Du hast es bald geschafft!« sagte er. Das Rehkitz verdrehte die Augen, er sah das Weiße darin. Es begann zu zappeln, versuchte,
     von seinem Arm zu springen. Er rang mit ihm. »Halt still! Du machst es nur schwerer für dich. Ich helfe dir doch!«
    Es streckte den Kopf aus, gab einen seltsamen Laut von sich, eine Art Atmen und Brummen zugleich.
    »Halte noch eine kleine Weile aus.«
    Wieder brummte es. Dann ließ es den Kopf niedersinken und hielt plötzlich still.
    »So ist es gut.«
    Nichts zitterte mehr: nicht die Beine, nicht das Fell. Der Kopf hing kraftlos hinab. Amiel blieb stehen. Er hob das Rehkitz
     näher an sein Gesicht, faßte nach dem schlaffen Hals. »Nein«, flüsterte er. Er kniete sich nieder, mitten auf dem Feld. Stoppeln
     knickten. Feucht und kalt empfing ihn die Erde. Er legte das Rehkitz zu Boden, drehte sich nach dem Wald um, der dunklen Wand
     von Bäumen. Er sah wieder nach vorn. Seine Hand streichelte das warme Fell. »Nein! Wach wieder auf!«
    Es war tot. Es war in seinen Armen gestorben. Hatte er zu fest zugedrückt? Er hätte vorhin nicht versuchen sollen, den Armbrustbolzen
     herauszuziehen. Wäre er statt dessen gleich losgegangen und hätte einen Bader aufgesucht, dann wäre das Tier noch am Leben.
     Er war schuld an seinem Tod.
    |204| Er dachte an die Schwester, den Zwilling. Sie hätte genauso ausgesehen wie er. Gemeinsam waren sie im Bauch der Mutter gewesen.
     Als sie zur Welt kamen, lebte er. Die Schwester war tot. Irgendwie hatte er sie im Bauch umgebracht. Ihr die Nahrung geraubt,
     vielleicht den Hals umgedreht, er wußte es nicht. Aber er sah in den Blicken der Mutter, daß sie das Mädchen vermißte.
    Jedesmal, wenn sie ihn liebevoll anblickte, sah sie die Schwester. Sie wünschte sich dann heimlich, daß er gestorben wäre
     und das Mädchen an seiner Stelle lebte. Nie sprach sie es aus, aber er wußte, daß sie ihm den Mord an seiner Schwester zum
     Vorwurf machte. Ein Mädchen hätte das nicht getan, ein Mädchen wäre nicht so grausam gewesen im Mutterbauch, es konnte nur
     das Werk des Jungen sein, der Junge lebte, das Mädchen starb.
    Wie er sich bemühte, für die Schwester mitzuleben! Wie er sich bemühte, die Liebe und Vergebung der Eltern zu verdienen! Aber
     seine Versuche waren unzureichend. Die Eltern hätten lieber das Mädchen gehabt, das Mädchen mit seinem Gesicht, seinen Augen,
     seinem Haar. Sie hätte ihre volle Zuwendung erhalten.
    Erneut hatte er durch Nachlässigkeit getötet. Seine Hand auf dem Rehkitz erschlaffte. Wenn es sein Sohn war, hatte er ihn
     ein zweites Mal auf dem Gewissen. Wie schwer konnte ein Gewissen werden? Wie lange konnte er noch Gewichte darauf häufen,
     bis es ihn am Ende erdrückte? Er sehnte sich nach einem Ort, wo er es erleichtern konnte, sehnte sich danach wie nach nichts
     anderem auf der Welt. Gott würde ihm vergeben. Aber er ließ ihn erst vor, wenn er sich geläutert hatte. Er mußte es schaffen,
     sündlos zu werden, gehorsam, stark. Er durfte nicht mehr fallen, nicht wieder hinfallen.
     
    Nemo lehnte sich gegen die steinerne Mauer, die den Marktbrunnen umlief. Er stand im Mittelpunkt Münchens; hier kreuzte die
     große Handelsstraße von Augsburg nach Salzburg ihre Schwester, die von Regensburg nach Innsbruck und |205| über den

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