Das Mysterium: Roman
doch noch alles gut«, sagte sie. »Du bist gerettet.«
»Da bin ich nicht so sicher.«
»Ich kann die Gulden holen und uns davon Pferde mieten. Wenn sie uns durch das Sendlinger Tor lassen und wir einmal aus der
Stadt sind, wird es schwer, uns wieder einzufangen.«
»Mathilde.«
»Ja?«
»Dieser Kerkermeister war kein Freund Amiels.«
»Aber er hat das geheime Zeichen gemacht!«
»Genau das meine ich. Er kennt Amiel nicht.«
»Du meinst, man stellt uns eine Falle?« Sie schluckte. »Dann laß uns von hier verschwinden, unverzüglich!«
»Nein. Sie würden Verdacht schöpfen, wer auch immer hinter dem Kerkermeister steckt. Wir bleiben, bis zum Einbruch der Dunkelheit.
Dann gehen wir durch das Sendlinger Tor. |196| Ich bin sicher, daß man uns beobachtet und uns folgt. Wir werden einen Weg suchen müssen, auf dem wir die Verfolger abschütteln
können.«
»Vater, es tut mir leid. Ich hatte eine Ahnung, daß da etwas nicht stimmt. Aber ich weiß nicht mehr, wann ich meinen Ahnungen
trauen soll.«
Er strich über ihren Arm. »Du hast es gut gemacht. Sie sind mächtig genug, uns aus der Stadt zu bringen. Das machen wir uns
zunutze.« Er tat einige Schritte ins Dunkel. »Meinst du, hier gibt es eine Bank oder etwas anderes, auf das ich mich setzen
kann?«
Mathilde begann, den lichtlosen Raum zu durchforschen. Sie machte ihre Schritte langsam, um nirgendwo anzustoßen, und hielt
die Hände nach vorn ausgestreckt. Unter ihren Füßen raschelte es. Sie bückte sich. Es waren weiche, faulige Rübenblätter.
Irgendwann hatten hier Rüben gelagert. Sie stand auf und ging weiter. Bald stieß sie mit den Händen an eine nackte Wand. »Hier
ist nichts. Du könntest dich auf die Treppe setzen. Warte, ich sammle dir ein Polster zusammen.« Sie wischte mit den Händen
über den Boden, bis sie einen dicken Haufen Rübenblätter beisammen hatte, und legte ihn auf die zweitunterste Stufe. Anschließend
führte sie Vater dorthin und half ihm, sich zu setzen.
»Ich danke dir, Töchterchen. Was für ein Glück, daß ich dich habe.«
Sie setzte sich neben ihn und nahm seine Hand.
»Willst du wissen, warum der Kerkermeister kein Nachfolger Amiels sein kann?«
»Wegen der Zeichen, hast du gesagt.«
»Ich erkläre es dir.«
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Winter 1336
Die Hirsche kamen aus den Alpen herab. Sie zogen in die Flußauen, auf der Flucht vor dem Winter. Rings um München sah man
Hirschrudel, die vom jüngsten Tier angeführt wurden, Rudel von Hirschkühen und Einjährigen. Man sah Einzelgänger, große alte
Hirsche. Ihr Vorderhals war mit langem Haar bewachsen, als trügen sie einen Bart. Sie rieben ihre Köpfe an Bäumen, als wollten
sie die Stämme mit ihrem Geweih umschieben. Das Gerücht ging um, daß ein Tier unter ihnen sei, das vollständig weiß war. Tagelang
sprach man von nichts anderem. Man wußte, es war ein böses Vorzeichen.
Der November brachte Kälte. Sonnenblumen standen tot in den Gärten und an den Feldrändern, im Stehen verfault, braune Blumenleichen
mit gesenkten Köpfen. Die Luft war feucht wie kalte Lappen. In den Häusern der Reichen heizten die Öfen. Kohle und Holz wurden
teuer.
Adeline kniete in der Küche vor einem Bottich. Drinnen im heißen Wasserbad lag die Leibwäsche der Gräfin. Adeline schüttete
Asche hinzu, tauchte die Hände ein, auch wenn sie schon schrumpelig waren, und rieb den Stoff. Längst hatte sich ihre Haut
rot gefärbt bis zu den Unterarmen, verbrannt war sie, weil sie das heiße Wasser nicht gewohnt war. Die Haut zwickte, juckte.
Sie sah sich um. Zwei Köchinnen stopften einen Fasan, ein Gehilfe rührte den großen Kessel um. Sie war nicht allein. Paß auf,
daß du niemals allein bist, hatte William Ockham gesagt. Und wenn die Köchinnen zu Amiel gehörten? Sie sahen so seltsam zu
ihr herüber.
Diese ständige Angst! Am Abend konnte sie nicht einschlafen, obwohl sie die Truhe vor die Tür ihrer Kammer geschoben hatte.
Sie fürchtete, daß jemand durch das Fenster |198| einsteigen könnte. Lange vor Sonnenaufgang kroch sie aus dem Bett, gerädert und krank vor Schlaflosigkeit. Daß man ihr Knochen
an die Seite gegeben hatte auf Williams Geheiß, war ihr einziger Trost. Er leckte am Morgen ihre Hand, versuchte, sie zu besänftigen.
Aber sie wußte, daß er käuflich war. Ein Stück Fleisch genügte, und er wechselte die Seiten.
Wäsche zu waschen, das war keine Arbeit für ein Kammermädchen. Sahen sie die Köchinnen deshalb
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