Das Mysterium: Roman
sagst!«
»Ich schwöre es vor Gott.« Er hatte tatsächlich Tränen in den Augen.
»Verpflichtest du dich, jede Buße anzunehmen, die dir im Urteil verkündet werden wird?«
»Ich will jede Buße annehmen.«
Vizenz faßte sich an die Wange. Dieses Pochen, dieses schmerzhafte Hämmern! Er sagte: »Führt ihn ab.« Vielleicht würde der
Hauptmann in der Haft zu einem weitergehenden Geständnis finden. Er würde Angst leiden, und Angst war ein gutes Mittel gegen
die Verstockung.
Der Hauptmann sah auf. »Die Strafe wird mir gar nicht mitgeteilt?«
»Es sind noch weitere Zeugen zu vernehmen. Du wirst deine Strafe noch früh genug erfahren.«
Sie führten ihn hinaus. Er hatte seine kraftstrotzende Ausstrahlung verloren. Wie ein Kind sah er aus, das sich vor den Schlägen
des Vaters fürchtete: Den Kopf hatte er eingezogen, |222| die Schritte waren klein und unsicher. Haarschopf und Bart waren zerzaust.
Der Bischof beugte sich zu Vizenz hinüber, faßte ihn am Arm und raunte: »Mein Lieber, da habt Ihr wahrlich etwas aufgetan.
Ein Hauptmann, verwickelt in solche Ketzereien! Wen wollt Ihr als nächstes vorladen?«
Der Bischof würde ihm keine Hilfe sein. Entwischte ihm Amiel, dann würde er Vizenz enttäuscht fallenlassen. Ihn aber zu unterstützen,
das würde dem Bischof in hundert Jahren nicht in den Sinn kommen.
Oh, wenn er, Vizenz, wie der große Dominikaner wäre! Der Weise Weiße, wie sie ihn nannten – er wäre all dem besser gewachsen.
Er konnte sich wahrhaftig Inquisitor nennen. Amiel von Ax zur Strecke zu bringen, es wäre ihm ein würdiges Amt, eine Aufgabe,
die ihm Freude bereitete. Aber dies war keine Aufgabe für ihn, Vizenz Paulstorffer! Dieser Amiel war ihm überlegen, er drohte,
ihn
zu Fall bringen,
ihn
, den Inquisitor. Er fürchtete es seit jener Nacht im Badehaus.
Einen kurzen Augenblick setzte der Zahnschmerz aus. »Venk von Pienzenau. Ihn laden wir als nächstes zum Verhör.«
Die Hand des Bischofs zuckte zurück. »Was? Wollt Ihr uns in den Untergang stürzen?«
Das Pochen begann erneut, stärker als zuvor. »Ich habe keine weitere Spur.«
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|223| 16
Etwas war anders mit Nemo. Er wirkte selbstbewußter. Sein Schritt war fest, seine Stimme ruhig. Hatte er ihr verziehen? Andere
Männer protzten, spielten sich auf vor den Frauen. Er hingegen respektierte sie. Er machte keinen Versuch, ihre Hand zu ergreifen,
war nicht von anbiedernder Gesprächigkeit. Still spazierten sie die Straße entlang in die Felder. Es gefiel ihr.
Seine Stirn war verletzt, eine häßliche, blutverkrustete Wunde. Wie war das passiert? Ein Sturz? Trug sie möglicherweise die
Schuld daran, weil sie Williams Wächter auf seine Fersen gebracht hatte? Die Wächter waren nur zu ihrem Schutz dagewesen,
sie sollten doch Nemo gar nicht fangen! Sie mußte ihm das erklären.
Männer zogen mit Spaten Kanäle zum Trockenlegen der Straße. Sie leiteten das Wasser aus den Lachen in die Gräben. Adeline
und Nemo wichen zum Straßenrand aus. Die Männer füllten Gruben und Schlaglöcher mit Holzkeilen, die Keile bedeckten sie mit
Weidenzweigen aus dem Weidicht bei Föhring. Dann schütteten sie Kies darüber. Jeder Wagen, der leer über die Isarbrücke hinausfuhr,
wurde mit Sand und Geröll beladen, das er kostenlos zum Straßenbau fahren mußte. Hier standen sie, die Wagen, und wurden entladen.
In der kalten Novemberluft lag stechender Uringeruch. »Riechst du das?« fragte sie.
»Was?«
»Es stinkt.«
Er zeigte auf das abgeerntete Feld zu ihrer Rechten. »Sie haben Mist ausgefahren, zum Düngen. Hab ich früher auch machen müssen.
Siehst du ihn? Dort in den Furchen.«
Das war für lange Zeit ihr letztes Wort. Sie erreichten Haidhausen. Die Dorfkirche war umgeben von Hunderten Kreuzen |224| aus dunkel angelaufenem, nassem Holz. Es verlieh ihr einen düsteren Charakter, als versammelten sich die Toten um ein böses
Artefakt. Nebelschwaden hingen zwischen den Gräbern.
Adeline faßte Nemos Arm. Sie spürte Wärme durch den Wollstoff seines Hemdes. Er zog den Arm nicht weg, aber er lächelte auch
nicht. Vielleicht täuschte sie sich, und es war nicht Selbstsicherheit, sondern Trauer, die er zeigte? Sie sagte: »Darf ich
dich etwas fragen?«
»Nur zu.« Er sah sie nicht an.
»Warum hast du mich zum Spazierengehen eingeladen? Ich finde es schön! Aber du bist seltsam, ich weiß nicht.«
Dachte er nach? Er schwieg, bis sie das Dorf hinter sich gelassen hatten. Als sie einen
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