Das Mysterium: Roman
der Brücke auf. Er streckte die Arme in die Höhe.
»Eine gute Entscheidung.« Vizenz nickte.
Da packte der Hauptmann das Geländer der Brücke und schwang sich hinüber. Anderthalb Mannslängen stürzte er hinunter. Er klatschte
ins Wasser der Isar. Vizenz rannte zur Brücke. Die Leute, die sich eben noch geduckt hatten, sprangen auf, sie standen ihm
im Weg, drängten ebenfalls zur Brüstung. Alle gafften hinunter auf das Wasser.
Er befahl den Bütteln: »Seht vom Ufer aus unter der Brücke nach!« Endlich erreichte er die Brüstung. Strudel sah er, sich
kräuselnde Wellen. Der Hauptmann war verschwunden. Sein |215| Kettenhemd zog ihn zum Grund des Flusses, er mußte ersaufen in der kalten Flut.
Nemo berührte die Tür zur Kammer des Perfectus. Das Holz erschien ihm seltsam lebendig unter seiner Hand. Es war der Eingang
zu einem verbotenen Reich. Er zog den Schlüssel hervor und steckte ihn ins Schloß. Dem Perfectus hatte er einen falschen Schlüssel
an den Lederriemen geknüpft, einen, der diesem ähnelte. Der Feinschmied hatte ihn nach seiner Zeichnung für ihn angefertigt.
Wenn Amiel zurückkehrte, würde er bald das Zimmer betreten wollen. Es würde nicht genug Zeit bleiben, um die Schlüssel wieder
auszutauschen.
Ich lasse die Tür unverschlossen, dachte er. Dann glaubt Amiel, unachtsam gewesen zu sein, und steckt den falschen Schlüssel
ungenutzt wieder fort.
Der Plan war gewagt. Wenn Amiel ihn in seiner Kammer erwischte, dann gab es keine Ausflüchte. Adeline hatte recht, der Perfectus
war grausam. War nicht erst vor einer Woche Hauptmann Ermenrich schweißgebadet und mit tränennassem Gesicht aus dieser Kammer
gewankt? Was sie geredet hatten, was der Perfectus getan hatte, wußte Nemo nicht.
Aber war er in der Lage, einen Menschen zu töten? Nemo kannte niemanden, der sich selbst beherrschen konnte, wie es der Perfectus
tat. Was ging im Inneren dieses Menschen vor? Immer häufiger waren ihm in letzter Zeit Blicke aufgefallen, Handbewegungen
Amiels, Worte, die ihm unheimlich waren.
Er schob die Tür auf. Das Herz schlug ihm weit oben in der Kehle, er meinte, es im Mund zu fühlen. Jederzeit konnte der Perfectus
wiederkehren, und dann erwischte er Nemo in seiner Kammer, beim Vertrauensbruch.
Da lagen Schriftstücke auf dem Tisch. Briefe. Er nahm einen auf und versuchte, ihn zu lesen. Was war das? Buchstaben und Zahlen
standen in wirrer Folge. Wie konnte der Perfectus sie lesen? Ein Geheimnis mußte die Buchstaben und Zahlen verbinden, dessen
Kenntnis es Amiel erlaubte, ihren Sinn zu verstehen.
|216| Daneben lag ein Buch. Er befühlte das rote Leder, in das es eingeschlagen war. Roch daran. Es duftete herbe. Er schlug das
Buch auf.
Interrogatio Johannis
, stand auf der ersten Seite. Seine Fingerspitzen kribbelten. Dies waren also die Geheimnisse, die der Perfectus hütete? Nemo
blätterte vorsichtig um. Der Text war mit erlesenen Bologneser Lettern verziert, in blauer und zinnoberroter Tinte. Nemo las
lateinische Worte, deren Bedeutung ihm seltsam unwirklich und geisterhaft auf der Zunge lag, Worte vom Sturz Satans, von den
Engelseelen, von Gefangensein, von Sehnsucht nach Befreiung.
Ein Geräusch an der Tür.
Hastig legte Nemo das Buch nieder. Es rauschte in seinen Ohren. Der Pulsschlag schmerzte an seinem Hals, als wollten die Adern
platzen. Kam der Perfectus? Es blieb still. Er wußte genau, daß er diesen Raum schleunigst verlassen mußte. Aber wie von einer
unbezwingbaren Macht getrieben, trat er an die Kiste heran, die er dem Perfectus damals in die Stadt geschleppt hatte.
Er öffnete den Deckel. Kleider. Obenauf lag der Hammer. Nemo nahm ihn in die Hand. Der Hammerkopf wackelte. War er schon lose
gewesen, als sie den Hammer ausgruben? Er befühlte ihn. Zog daran. Der Hammerkopf löste sich vom Stiel. Der Stiel war hohl!
Das Ende eines Pergaments schaute heraus. Nemo zog es mit den Fingerspitzen aus der hölzernen Hülle.
Depositum
Das war der Titel. Darunter eine feine, pechschwarze Schrift.
Dieses Dokument stammte von seinem Vater! Der Vater hatte es in der Hand gehabt, er hatte es vergraben, als Nemo noch ein
kleines Kind war, kurz vor ihrem Abschied.
Es war nur halb, das Pergament endete zur rechten Seite in einem Zick-Zack-Schnitt. Wer hatte das Schriftstück entzweit? Der
Vater? Wo befand sich die andere Hälfte?
Schritte von der Treppe.
Er mußte das Zimmer verlassen. Er überflog den unvollständigen Text, unfähig, ihn
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