Das Mysterium: Roman
fortzulegen, und erfaßte einzelne |217| Wörter. Tommaso di Arnolfo … Florenz … eine
Compagnia
gewährte zwölf Prozent Zinsen. Auf welche Summe? Das mußte auf der anderen Hälfte des Schriftstücks stehen.
Die Außentür klappte. »Nemo?« Die Stimme des Perfectus.
Eilig rollte er das Pergament zusammen und schob es in den Stiel. Er hob den Hammerkopf auf. Er steckte den Hammerkopf an
den Stiel und schloß den Deckel der Kiste.
In diesem Augenblick betrat Amiel von Ax die Kammer. Er wurde schlagartig kreidebleich. Dann verfärbte sich sein Gesicht zu
Zornesröte. Ein Ruck ging durch seinen Körper. Mit drei Schritten war er heran. Seine Hand umschloß Nemos Hals und preßte
zu. »Nichtswürdiger!«
Nemo röchelte, faßte den Arm des Perfectus, um sich zu befreien. Der Griff Amiels drückte ihn auf die Kiste nieder. Er reißt
mir die Kehle heraus! dachte Nemo. Er schlug nach Amiel.
Der Perfectus zückte ein Messer. »Wer?« fragte er und bohrte ihm die Klingenspitze in die Stirn. »Wer steckt dahinter? Du
hintergehst mich. Wer hat dich angestiftet?«
»Niemand«, krächzte er. Der Laut schmerzte in der Kehle.
»Es war dieses Kammermädchen vom Kaiserhof, nicht wahr? Adeline. Die, mit der du dich auf dem Marktplatz getroffen hast.«
Wie hatte Amiel davon erfahren? Blut rann Nemo von der Stirn, es floß warm an der Nase entlang und tropfte vom Kinn. Er mußte
sich dumm stellen, er durfte seine Täuschung nicht aufgeben. »Ihre Frage … Ich wußte nicht …«
»Welche Frage?« Unerbittlich bohrte sich der Eisendorn in seinen Kopf.
»Wie es kommt, daß Kinder nicht sofort nach der Geburt sprechen, wo sie doch eine alte, erfahrene Seele erhalten haben.«
»Die überkluge Adeline soll ihrerseits eine Frage beantworten. Wie kann es sein, daß Kinder weinen, wenn sie auf die Welt
kommen? Sollten sie nicht glücklich sein und lachen? Aber nein, sie leiden, denn eine Seele wird in ihren kleinen Körper gesperrt,
eine Seele, die frei sein möchte.« Der Perfectus |218| nahm das Messer von ihm und ließ auch seine Kehle los. »Du kennst das Wesen der Frauen nicht. Macht sie dich glauben, daß
sie dich liebt? Nimmt sie dich ein mit der Art ihrer Blicke, mit ihrem Körper? Das sind ihre Mittel. Das ist ihre Lüge. Ihr
Ziel ist es, dich zu verletzen! Glaubst du wirklich, Adeline liebt dich? Welchen Grund sollte sie dafür haben? Was ist an
dir wert, geliebt zu werden?«
Obwohl Nemo die Absicht Amiels durchschaute, verletzte ihn die Frage. Sie hallte in ihm wider:
Was ist an dir wert, geliebt zu werden?
Etwas zerbrach in ihm. Plötzlich dachte er: Ja, warum sollte sie mich lieben? Ich bin ein Nichts. Ein Niemand.
War er auf Schmeicheleien hereingefallen, ausgerechnet er? Er paßte doch nicht zu einer wunderschönen Frau wie Adeline. Sie
spielte mit ihm. Sicher wußte sie seit langem, daß er sie begehrte. Sie nutzte seine Schwäche aus.
»Es würde mich nicht wundern, wenn William Ockham sie auf dich angesetzt hat. Hast du nicht erzählt, daß du sie auf der anderen
Seite der Mauer getroffen hast, als du in den Kaiserhof eingedrungen bist in meinem Auftrag? Glaubst du, das war ein Zufall?
Sie sollte dir auflauern. Prüfe sie, Nemo. So, wie du mich in ihrem Auftrag bespitzelt und mich unschuldig gefunden hast,
so wirst du sie schuldig finden, die Hexe. Erscheint sie dir wehrlos und schwach? Erscheint sie dir zauberhaft schön? Das
sind Hexen, Nemo. Lerne es.«
Die Tür sprang auf, und jemand polterte durch die Küche. Im Türrahmen blieb er stehen, keuchend, triefend von Wasser. Es war
Hauptmann Ermenrich. »Verrat«, dröhnte er. »Verrat! Wir haben einen Spitzel unter uns. Er hat der Inquisition meinen Namen
gesteckt.« Rings um ihn wuchs eine Pfütze auf dem Boden, streckte Tentakel aus, fingerte nach allen Richtungen. Seine Unterkleider
hingen schief. Der Rock fehlte, das Kettenhemd, die Stiefel.
»Mäßige dich!« befahl Amiel.
Ermenrichs Blick sprang vom Perfectus zu Nemo. »Du!« Er zeigte auf ihn. »Du warst es. Du hast mich an den Inquisitor verraten.«
Er stürmte auf Nemo los.
|219| Amiel stellte sich ihm in den Weg. »Nein, Ermenrich. Du täuschst dich.«
Mit Mühe kam der Hauptmann vor Amiel zum Stehen.
»Nemo dient uns treu«, sagte der Perfectus. »Er hintergeht weder mich noch die reine Kirche, noch dich, Hauptmann.«
»Gut.« Der Hauptmann sprach es wie einen Fluch. »Gut. Und was soll ich tun? Mich anstecken lassen und auf dem Scheiterhaufen
zu
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