Das nasse Grab
Tempelanlage – ein ebenfalls verwittertes großes, rundes Bauwerk, von dem fast nur noch die Grundfesten standen.
Wie durch die Mauern, führte ein Pfad aus bearbeiteten, flachen Felsplatten in den eigentlichen Tempel hinein. Mythor sah es mit einigem Erstaunen. Es hatte den Anschein, als würden diese Platten regelmäßig von Schlamm und anderem gereinigt, das das Meer über sie spülte.
Dorgele blieb erst stehen, als die Mitte der Ruine erreicht war. Das Dach war längst eingefallen, aber keine Trümmer lagen hier herum. Kein Schlamm bedeckte die Platten im Innern der Ruine. Steinbänke waren halbkreisförmig vor einer zwei Fuß hohen Plattform angeordnet, die sich zum Meer hin verbreiterte und eine Länge von gut einem Dutzend Körperlängen haben mochte.
Nicht aber diese unheimlichen Stätte an sich war es, die den Gefährten den Atem stocken ließ.
Fassungslos starrten sie auf die riesige Statue, die auf dem Steinsockel ruhte. Im Gegensatz zu den Mauern, war sie noch überraschend gut erhalten, wenngleich sich erahnen ließ, daß auch sie uralt war. Auch sie wurde offenbar regelmäßig von Tang und anderem befreit, doch einige Ablagerungen, die die Inselbewohner wohl übersehen hatten, zeugten davon, daß auch sie bei Flut unter Wasser stand.
Auch die Verehrung, die diese Menschen der Statue jetzt entgegenbrachten, war es nicht, die Mythor schaudern ließ.
Die riesige Statue stellte ein unheimliches Mischwesen dar, wie Mythor es schon im Kulthaus gesehen hatte. Das Wesen nahm eine kauernde Haltung ein. Vorn am mächtigen Körper einer formlosen, langgestreckten Nacktschnecke befand sich wieder der Totenschädel. Nur war dieser hier etwa drei Körperlängen hoch und ebenso breit. Die Augenhöhlen waren große, schwarze Fenster, der Mund war zahnlos und weit aufgerissen zu einem Portal in unbekannte Tiefen.
Mythor ahnte, daß diese Statue hohl und der Mund der Zugang ins Innere war.
Er drehte sich zu den Verfemten um. Sie alle hatten nun einen Kreis um die Gefährten und Dorgele gebildet, und ihre Absicht, keinen der vier hier wieder herauszulassen, war unverkennbar. Männer mit Fischknochenspeeren hatten sich vorgeschoben und die tödlichen Spitzen den Gefährten entgegengestreckt.
Im flackernden Schein der rußenden Fackeln wirkte dieser Ort nun noch unheimlicher. Es war gerade so, als könnten der Statue und den Mauern jeden Augenblick die Geister von Wesen aus grauer Vorzeit entschlüpfen und von den Lebenden Besitz ergreifen.
»Welche Probe ist es, der wir uns unterziehen sollen?« fragte Mythor, obwohl er die Antwort kannte. Durch Blicke verständigte er sich mit Scida und Kalisse. Seine Hand legte sich auf Altons Griff.
»Ihr werdet hineinsteigen«, sagte Dorgele ruhig, als wäre dies das Natürlichste von der Welt. Sie deutete auf die Augenhöhlen der Statue. »Betretet das Abbild der Anemona – und geht euren Weg!«
Gerrek, desse Neugierde stärker zu sein schien als seine Angst, war auf den Sockel geklettert und hatte einen Blick in den Mund des Totenschädels geworfen. Mit einem schrillen Schrei fuhr er zurück.
Mythor kam nicht dazu, ihn danach zu fragen, was er gesehen hatte. Die Männer mit den Speeren rückten näher. Gleichzeitig begannen die hinter ihnen stehenden Verfemten mit einem beschwörenden Gesang.
Er sah, wie sie tanzende Bewegungen zu vollführen begannen. Ihr schauerlicher Gesang wurde lauter und eindringlicher. Sie riefen die »Mutter der Meere« an und verneigten sich vor dem Götzenbild der Anemona. Waren diese beiden Gottheiten also wirklich eins? »Steigt hinein!« forderte Dorgele Mythor, Gerrek und die Amazonen auf.
»Steigt hinein!« erscholl es von überallher. Grimassen schoben sich auf die Gefährten zu. Die Speerspitzen kamen näher.
»Nein!« schrie Kalisse. Sie riß ihr Schwert aus der Scheide. Die andere, eiserne Hand holte zum ersten Schlag aus. Mythor und auch Scida zogen blank. Gerrek schien gar nichts mehr wahrzunehmen. Etwas hatte ihn derart erschreckt, daß er zu keiner Bewegung mehr fähig war.
» Steigt hinein! Steigt hinein! «
»Das werden wir!« schrie Mythor zurück. »Aber dann, wenn es uns gefällt!«
Die Bewaffneten schienen ihren Ohren nicht zu trauen. Für zwei, drei Herzschläge standen sie um die Gefährten herum wie erstarrt.
Dann ging ein Ruck durch ihre Reihen. Mit lautem, wütendem Gebrüll stürzten sie vor und schickten sich an, die »Prüflinge« in den Schlund der Statue zu treiben.
Ein Kampf entbrannte. Scida und Kalisse
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