Das nasse Grab
führen dorthin«, sagte sie nur.
Gorma stieß eine Verwünschung aus und rannte an ihr vorbei, bis sie das Steilufer erreichte.
Die Spuren endeten vor dem nach unten führenden Pfad. Wieder begaben sich die Amazonen hinunter. Diesmal stürmten sie auf die Plattform hinab.
Sosona war es, die Telmis Helm an genau jener Stelle fand, von der aus die Inselbewohner ins Wasser gesprungen waren.
Es dauerte eine Weile, bis Gudun das auszusprechen vermochte, was ihnen allen nur zu klar sein mußte.
»Sie haben sie entführt«, preßte sie tonlos hervor. »Während wir uns vor den Steinen in Sicherheit zu bringen suchten, müssen sie Telmi und Sinaka überwältigt und hierher zurückgeschleppt haben.«
»Mehr noch«, sagte Sosona schwer. »Sie übergaben sie dem Meervolk. Sie opferten sie, um den Unwillen von sich abzuwenden, den sie durch unser Erscheinen auf sich gezogen haben.«
Zwei aus ihrer Mitte – entführt von Wesen, die in den Tiefen des Ozeans lebten, in ihren uralten, versunkenen Städten, und die die Amazonen noch nicht einmal richtig zu Gesicht bekommen hatten.
Gorma riß beide Schwerter aus den Scheiden und streckte die Arme hoch in die Luft, als sie sich den Kriegerinnen zuwandte.
»So wollen sie den Kampf!« rief sie mit bebender Stimme aus. »Und so werden sie ihn bekommen! Vorwärts, besuchen wir abermals ihre Stadt! Und diesmal werden wir Jäger sein! Der Tod unserer Gefährtinnen schreit nach Rache!«
»Rache!« erscholl es aus vielen Kehlen.
Gorma winkte mit den Schwertern. Andere Waffen blitzten im Mondlicht, als der Trupp sich in Bewegung setzte.
Starre Augen in Gesichtern, die keine waren, blickten ihnen nach, an Klippen und weit hinten im Wasser, wohin das fahle Licht nicht reichte.
5.
Wie lange sie im Kulthaus gesessen hatten, wußte Mythor nicht zu sagen, als das Geräusch an der Tür ihn herumfahren ließ. Viele Stunden, das war sicher.
Als der Riegel fiel und kurz darauf die Tür von außen aufgerissen wurde, drang der Schein vieler Fackeln in das Gebäude.
Es ist Nacht! dachte Mythor. Sie holen uns noch in der Nacht!
Woran ihn das wieder denken ließ, sprach er lieber nicht laut aus. Scida, Gerrek und vor allem Kalisse waren gereizt genug. Wenn es aber ein Entkommen aus dieser gefährlichen Situation gab, dann nur durch Besonnenheit und Handeln im rechten Augenblick.
Dieser Augenblick war für Mythor noch nicht gekommen.
Er wußte es sich selbst nicht zu erklären, schalt sich einen Narren dafür, aber während der letzten Stunden war dieses Gefühl, daß hier im Nassen Grab eine furchtbare Gefahr lauerte, noch stärker geworden.
Er mußte zum Hexenstern, auf dem schnellsten Weg. Doch andererseits wollte er wissen, ob es diese Gefahr gab und was oder wer sie verkörperte. Er spürte, daß nicht zuletzt auch Fronjas Schicksal davon abhängen mochte.
Daß er sich seine finsteren Ahnungen nicht zu erklären vermochte, hatte ihn kurze Zeit glauben gemacht, daß vielleicht Fronja selbst dafür verantwortlich sei. Auch wenn sie ihm keine Träume mehr schicken konnte, die er als solche erkannte – war es nicht möglich, daß sie ihn auf andere Weise erreichte, auf eine Art, die er selbst nicht wahrnahm?
Er mußte sich vor falschen, trügerischen Hoffnungen hüten.
Immer wieder redete er sich das ein – so auch jetzt, als sich Dorgele vor dem Altar erhob und mit gesenktem Kopf auf den Ausgang zuschritt, leichtfüßig, als schwebte sie.
Erst als sie die Tür erreicht hatte, wandte sie sich um und sagte:
»Kommt nun. Es ist Zeit. Die Meermutter wartet.«
»Ohne mich!« knurrte Gerrek. »Honga, darf ich jetzt endlich…?«
»Schluck dein Feuer noch eine Weile hinunter«, riet Mythor ihm. »Wir gehen mit ihnen.«
»Aber…!«
Kalisse kam heran und baute sich vor ihm auf. Lautstark sagte sie ihm, was sie von seinem Zögern hielt, und daß es nur für eines Zeit wäre: zum Dreinschlagen und zur Flucht.
»Wohin?« fragte Mythor nur. Und Scida kam ihm zu Hilfe, obgleich auch in ihren Augen die Sorge stand.
Auch Gerrek war dafür, erst einmal auf der Insel zu bleiben, nachdem Mythor ihm klargemacht hatte, daß eine Flucht überhaupt nur in Fischerbooten und über ein unbekanntes Meer möglich war. Widerwillig folgte Kalisse den anderen aus dem Kulthaus.
Mehr als hundert Ausgestoßene erwarteten sie auf dem Vorplatz. Und sie alle hatten brennende Fackeln in den Händen, die die Nacht zum Tag machten. Wieder sah Mythor diese Mischung aus Ehrfurcht und etwas anderem in ihren
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