Das Nazaret-Projekt
zur Folge, die sich in seiner Gegenwart aufhielten, eine Art Magnetismus, der weit über bloßes Charisma und Persönlichkeit hinausging und der vor allem keines animalischen Ursprungs war.
Telly stellte sich insgeheim die irritierende Frage, was so ein äußerst seltener Mensch, begabt mit natürlicher Würde und Autorität, in der Gesellschaft pathogen-spiritueller Egomanen und schizophrener Kreuzzug-Fundamentalisten eigentlich zu suchen hatte. Eine Brock’sche Fehlbesetzung?
»Bruder Suntide, ich möchte Sie mit Merkwürden Hieronymus Meyrink bekannt machen. Er ist der gleichmütigste und unbestechlichste Mann, der mir je begegnet ist, ein leider viel zu gütiger und nachsichtiger Mensch, um jemals einen brauchbaren Kreuzritter abzugeben. Er weigert sich außerdem sowieso standhaft, meinem Orden beizutreten und ist der Einzige in meinem Umfeld, der es wagt, mich, meine Loge und mein Projekt ausgiebig zu kritisieren – abgesehen natürlich von Ihnen, verehrter Reverend!«
Mit Erstaunen registrierte Telly, dass Brocks dröhnendes Lachen die Türen eines Aufzugs nicht nur jederzeit öffnen, sondern auch mühelos schließen konnte.
»Bruder Hieronymus ist ein Magier, ein Schamane, ein Mystiker, ein Heiler, ein Philosoph, ein Dichter, ein Musiker – was immer Sie wollen! Er ist meine esoterische Geheimwaffe, meine Rückversicherung und mein Dolmetscher für den Fall von Kommunikationsproblemen auf spiritueller Ebene.«
»Das ist völliger Unsinn, Gott bewahre mich!« Meyrink lachte und blickte dabei unablässig wie prüfend in Tellys Augen. »Ich bin nur ein einfacher Mensch, der leider von seinem Schöpfer mit einem Übermaß an Neugierde gesegnet worden ist, welcher ich wiederum ein entsprechendes Maß an Ärger und Schwierigkeiten zu verdanken habe! Wenn ich alle meine Sinne wirklich beieinander hätte, würde ich vermutlich sofort versuchen, notfalls sogar schwimmend das nächste Festland zu erreichen! Wo bleibt denn da außerdem Ihr Gottvertrauen, mein lieber Herr Brock. Denken Sie wirklich, dass sich der Herr der Schöpfung gegenüber seinen Kreaturen so missverständlich ausdrücken könnte, dass ein Übersetzer notwendig wäre? Was für ein trauriger, ängstlicher, kleinmütiger Gedanke! Und wogegen wollen Sie sich rückversichern? Gegen einen kompletten Reinfall oder das Ende der Welt? Doch hoffentlich nicht für den peinlichen Fall, dass die erzwungene Reinkarnation eines gewissen jüdischen Rabbiners vielleicht dessen allergrößten Unmut erregen könnte? Wenn ich in seinen Sandalen stecken würde, dann wäre ich jedenfalls ganz schön sauer, weil mich keiner vorher gefragt hat, ob ich eventuell an einer kurzfristigen Wiederauferstehung interessiert wäre.«
Hieronymus grinste dabei schelmisch über beide Ohren und zwinkerte Telly vertraulich zu. In diesem Augenblick fand zwischen den beiden ungleichen Männern eine heimliche Synchronisation statt, das intuitive Erspüren einer Seelenverwandtschaft, die mehr darstellte als nur ›stimmige Chemie‹, eine Art höheres Erkennen außerhalb der sinnlichen Wahrnehmung und jeder Logik.
Telly Suntide war auf einen echten spirituellen Lehrer gestoßen und Hieronymus Meyrink hatte im Gegenzug einen geeigneten Schüler gefunden, der ihm erlauben würde, seine Funktion zu erfüllen. Keinem von beiden war das aber zu diesem Zeitpunkt schon bewusst, am allerwenigsten natürlich Reverend Suntide, der den Gedanken an einen spirituellen Lehrer und Führer wohl entrüstet abgelehnt hätte, es sei denn, er hieße Telly ›The Truth‹ und käme aus Kalifornien, U.S.A.
Die Türen des Aufzugs öffneten sich und gaben einen überraschenden Blick frei auf einen mittelalterlichen Wandelgang, der sich aus lauter aneinander gereihten Kreuzgewölben zusammensetzte. Links eine lange Reihe schmuckloser, kleiner Säulen, verbunden durch gotische Spitzbögen, die rechte Wand unterbrochen durch Mauervorsprünge. An ihnen waren eiserne Krallen befestigt, in denen dicke, kräftig rußende Kerzen brannten. Das diffuse, flackernde, gelbe Licht spielte mit den Schatten geometrischer Linien und Kanten. Ein Geruch von Weihrauch und Bienenwachs erfüllte das Gewölbe.
Zehn Schritte vom Lift entfernt verwehrte ein kunstvoll geschmiedetes, eisernes Gittertor mit massiven Angeln und Schlössern den Durchgang. An der rauen Wand entdeckte Telly den Knauf eines mechanischen Klingelzuges, darunter war in einer kleinen Nische eine Steinplatte mit eingemeißelter Inschrift angebracht.
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