Das Nebelhaus
vor dem Alleinsein zu entwickeln. Dementsprechend sprunghaft ist ihr Umgang mit anderen Menschen. Mal idealisieren sie, dann wieder entwerten sie bis hin zur Verteufelung. Bereits die kleinsten Ereignisse können starke Verschiebungen in ihnen auslösen. Da reicht der fehlende Kaffee aus, um eine bis dahin glückliche Beziehung in Frage zu stellen. Borderliner gieren förmlich nach dauernder Bestätigung. Erhalten sie diese nicht, suchen sie die Schuld manchmal bei sich selbst und bestrafen sich dafür. Schon kurz danach kann es passieren, dass sie die Kritik ganz anders einschätzen und die Schuld allein bei denen suchen, von denen sie kritisiert wurden.«
»Würdest du sagen, dass Borderliner starke Aggressionen gegen die Menschen entwickeln, von denen sie kritisiert werden?«
»Das kann man so pauschal nicht sagen. Borderliner empfinden ihr Leben oft als eine emotionale Achterbahnfahrt. Sie durchlaufen, wie wir alle, Phasen des Höhenflugs und Phasen des Tiefpunkts, jedoch ist die Achterbahn der Borderliner bedeutend höher als die anderer Menschen, viel kurviger und voller Loopings, und sie nimmt kein Ende. Aggressionen sind typisch, auch starke, doch deren Schwere hängt von der augenblicklichen Verfassung ab.«
»Welche Umstände könnten Leonie dazu gebracht haben, drei Menschen zu erschießen? Angst? Kritik? Enttäuschung? Das alles zusammen?«
»Wir alle würden in einer solchen Situation unter Stress stehen. Bei einem Borderliner ist er mit großer Wahrscheinlichkeit potenziert, das heißt der Betroffene reagiert ungleich stärker als die meisten anderen Menschen. Sollte Leonie unter einer solchen Persönlichkeitsstörung gelitten haben, hätte ihre ausgeprägte Impulsivität, verbunden mit der extremen Situation eine brisante Mischung ergeben. Damit meine ich allerdings nicht, dass die Mischung zwangsläufig oder auch nur wahrscheinlich zum Amoklauf führen muss.«
»Sondern wozu?«
»Hysterie, Halluzinationen in Form nicht vorhandener Stimmen oder Personen, Suizid … Doro, du musst Folgendes verstehen: Mit Borderlinern zu leben, zu arbeiten oder befreundet zu sein ist nicht gefährlicher als mit x-beliebigen anderen problematischen Menschen – von denen es nicht wenige gibt. Sie empfinden Liebe, Freundschaft, Hoffnung, haben Spaß, trauern … Natürlich stellt der Umgang mit ihnen eine spezielle Herausforderung dar: Man braucht Geduld und muss einiges wegstecken können. Besser man legt nicht alles auf die Goldwaage, was sie sagen oder tun. Borderliner, die sich in einer Therapie befinden, entwickeln jedoch nur selten ein hochaggressives Verhalten, das bis hin zum tätlichen Angriff gegen andere geht.«
»Leonie hat sich nicht in Therapie befunden.«
»Das erhöht die Wahrscheinlichkeit eines hysterisch-aggressiven Verhaltens. Dennoch müsste eine Situation vorliegen, in der Leonie Korn das Gefühl hatte, sich verteidigen zu müssen. Das ist nicht im Sinne einer herkömmlichen Notwehr zu verstehen. Sie könnte unter außergewöhnlichen Umständen gegen eine Person vorgegangen sein, von der sie nach eigener Meinung zutiefst beleidigt oder gedemütigt wurde, oder gegen eine Person, die sie für ihre schwierige Lage verantwortlich machte. Aber ich betone nochmals – die Umstände müssten wirklich außerordentlich gewesen sein. Viel wahrscheinlicher wäre aber auch dann die Selbstbestrafung, also Suizid.«
»Etwas habe ich noch nicht erwähnt. Leonie hat ihren Exfreund gestalkt, und zwar zwei Jahre lang und zum Zeitpunkt des Amoklaufs noch immer.«
Hanna seufzte. »Ja, das passt einerseits, denn Borderline bleibt selten allein, andere Störungen kommen oft hinzu. Andererseits, irgendwie …« Sie sog mit nachdenklicher Miene den letzten Rest Mai Tai aus dem Glas, und ich winkte – versprochen ist versprochen – nach dem nächsten. »Was mich daran stört«, fuhr sie fort, »ist die Tatsache, dass Stalker nur sehr selten Schusswaffen besitzen. Das Verhältnis liegt in Deutschland bei eins zu tausend, das macht eine Drohung mit der Waffe in tausend Fällen von Stalking. Dass von der Waffe Gebrauch gemacht wird, ist noch seltener, das Verhältnis liegt meines Wissens bei eins zu dreitausend. Und noch etwas ist merkwürdig: Stalker sind in der Regel auf eine Person fixiert, sie wollen eine Person besitzen oder vielmehr bestrafen. Leonie Korn hat, hilf mir, auf wie viele Menschen geschossen?«
»Auf drei und auf sich selbst. Ihr Exfreund war nicht darunter. Er war weit weg und kannte die Opfer
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