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Das Nebelhaus

Das Nebelhaus

Titel: Das Nebelhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Berg
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ich mit dem Fall vertraut?«
    »Ich glaube nicht. Es geht um die Hiddensee-Morde. Bisher ist es nicht zum Prozess gekommen, denn Leonie Korn, die Beschuldigte, liegt im Koma. Ich möchte über den Fall schreiben, und zwar etwas Größeres, einen echten Enthüllungsartikel.«
    »Jesses.«
    »Ja, allerdings weiß ich nicht, wie ich Leonies seltsames Verhalten einordnen soll, und es gibt noch kein Gutachten …«
    »Und da dachtest du, ich könnte dir ein Privatgutachten erstellen. Am besten hier und jetzt?«
    »Wenn es dir nichts ausmacht.«
    »Sorgst du für Nachschub an Nüssen und Mai Tais? Meiner Erfahrung nach kann man derart düstere Themen am besten mit Fett und Alkohol ertragen.«
    »Versprochen.«
    »Dann leg mal los.«
    Ich verleibte mir mit dem Strohhalm einen Mundvoll Negroni ein, recht bitter und somit passend zum Thema.
    »Leonie Korn war zum Zeitpunkt der Tat Ende dreißig, eine Kindergärtnerin, die kurz zuvor entlassen worden ist. Mir liegen Aussagen ihrer Chefin, ihrer Mutter und ihres Exfreundes über ihren Charakter vor, und es fällt mir schwer, diese Beschreibungen einzuordnen. Alle betonen jedoch Leonies Launenhaftigkeit. Ob im Umgang mit ihrer Mutter, ihrem Freund oder mit Kindern – immer waren die Ausschläge extrem. Ihr Vater war sehr streng, er sperrte die kleine Tochter oft in den Keller, und die Mutter war lange Zeit depressiv. Leonie Korn war meines Wissens nie in psychiatrischer Behandlung. Sie haderte mit ihrem Aussehen …«
    »Entschuldige, wenn ich dich unterbreche, aber alles, was du mir bisher erzählt hast, trifft auf ein Viertel der Bevölkerung unseres Landes zu. Launen, ein ambivalentes Gefühl zur Mutter, eventuell Depressionen … Ich kann aufgrund solcher Verhaltensweisen kein Psychogramm erstellen, das dich vom Hocker hauen würde.«
    »Na schön, wie wäre es damit: Sie hat sich häufig selbst verletzt. Die Ärzte haben kleine, teils vernarbte, teils halb verheilte Stichwunden gefunden, alte Kratzer und mehrere frische Brandblasen. Außerdem nahm sie übermäßig viele Schmerztabletten und schätzte riskantes Fahrverhalten. Mit Kritik konnte sie offenbar schlecht umgehen – gelinde gesagt. Sie bekam dann bisweilen Zornesausbrüche. Andererseits konnte man sie zum Essen einladen, und sie vermutete dahinter einen Schlich. Dasselbe konnte passieren, wenn ihr Freund vergaß, frischen Kaffee zu kaufen. Sie hat die kleinsten Gesten, Gesichtsausdrücke, Ausdrucksweisen analysiert.«
    »Und ist zu abenteuerlichen Schlussfolgerungen gekommen?«
    »Allem Anschein nach.«
    »Hatte sie vor dem Amoklauf Panikattacken?«
    »Davon ist mir nichts bekannt.«
    »Hat sie je einen Suizidversuch unternommen?«
    »Das weiß ich nicht. Aber sie hat eine Pistole besessen.«
    Hanna dachte darüber nach, während sie gemächlich eine Handvoll Erdnüsse im Mund zermahlte. Ich orderte nach.
    Ihr bisher eher lockerer Plauderton wechselte zu sachlich und analytisch, eine echte Gutachterstimme. »Ohne mit der Betroffenen sprechen zu können, bleibt meine Analyse vage. Ich fasse noch mal zusammen: extreme Ausschläge in der Bewertung anderer Menschen, unangemessene Verhaltensweise bei Kränkung oder Kritik, Missbrauch von Schmerzmitteln, rücksichtsloses Fahren, ein gestörtes Selbstbild, eine intensive Untersuchung von Gestus, Mimik und so weiter, schließlich Selbstverletzungen. Wie gesagt, ich will mich nicht endgültig festlegen, dafür müsste ich mit den Angehörigen und Freunden der Betroffenen selbst sprechen.«
    » Mir würde eine grobe Einschätzung genügen.«
    »Borderline.«
    »Das habe ich mir schon gedacht. Ich weiß zwar ein bisschen was darüber, aber kannst du mir mehr erzählen?«
    »Diese Persönlichkeitsstörung ist nicht zu vergleichen mit schwersten Erkrankungen wie beispielsweise Schizophrenie. Der Begriff Borderline bedeutet, wie du sicherlich weißt, Grenzlinie und ist irreführend, weil er sich nicht auf die Störung selbst bezieht, sondern ausdrückt, dass die Störung im Grenzbereich zwischen neurotisch und psychotisch anzusiedeln ist. Bei Borderline kommt es typischerweise zu den von dir geschilderten Verhaltensweisen. Dazu kommen äußerlich unauffällige Symptome wie das Gefühl von innerer Leere und ein ausgeprägtes Schwarz-Weiß-Denken. Zugrunde liegt oft eine in der Kindheit erlittene Vernachlässigung, sei es durch fehlende Liebe, durch häusliche Gewalt, durch Depressionen eines oder beider Elternteile. Borderliner neigen dazu, abwechselnd Angst vor Nähe und Angst

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