Das Nebelhaus
nicht.«
»Sehr seltsam. Stalker schießen, wenn überhaupt, auf die von ihnen verfolgte Person. Und Borderliner schießen weit eher auf sich selbst als auf andere.«
Ich fuhr nach Hause, leicht benebelt von einem Negroni und tausend Überlegungen. Je länger ich mich mit dem Amoklauf von Hiddensee beschäftigte, desto verwirrender wurde er. Anfangs hatte ich Leonie ganz selbstverständlich als Täterin angesehen, dann waren mir Zweifel gekommen, die jedoch Steffen Herold ausgeräumt hatte, und nun zweifelte ich erneut. Innerhalb eines Tages änderte ich meine Meinung nun schon zum zweiten Mal.
Gewiss, für den Laien schien die Sache klar: Leonie war bekloppt, verdreht, eine Stalkerin, die sich wer weiß was einbildete, also hatte sie geschossen, und die Indizien unterstrichen diese Behauptung. Hanna jedoch war psychologische Gutachterin. Wenn sie sagte, dass Leonies Persönlichkeitsstörungen kaum mit dem Amoklauf in Einklang zu bringen waren, ließ mich das aufhorchen. Hanna konnte sich irren – es wäre nicht das erste Mal, dass Gutachter in der Beurteilung der Gefährlichkeit eines Täters danebenlagen. Außerdem hatte sie nicht ausgeschlossen, dass Leonie Amok gelaufen war.
Trotzdem war ich irritiert. Wenn ich Hanna richtig verstanden hatte, war Leonies Amoklauf ungefähr so wahrscheinlich wie eine Planetenkonstellation, bei der alle Himmelskörper in einer Reihe stehen. Es mussten viele Dinge zusammengekommen sein, damit Leonie nicht Steffen Herold oder nur sich selbst, sondern drei andere Menschen getötet hatte, die sie zudem kaum kannte. Waren ein beängstigender Sturm, eine schwere Beleidigung und eine Zurückweisung die giftigen Zutaten für Leonies Zerfall gewesen? Hatte das genügt, um sie zur Mörderin zu machen?
Ich stellte mich darauf ein, die Antwort vielleicht nie zu bekommen. Doch es wurde Zeit, die anderen Überlebenden und Zeugen zu kontaktieren, um den Blick auf den Fall zu erweitern und die Tage und Stunden vor dem Amoklauf zu rekonstruieren. Yasmin hatte Unstimmigkeiten zwischen Philipp, Vev, Leonie, Timo und ihr selbst angedeutet. Das interessierte mich natürlich, und ich nahm mir für den nächsten Morgen vor, ein wenig herumzutelefonieren.
Als ich um Mitternacht nach Hause kam, hockte Yim vor meiner Tür – und aß Sushi.
Ich lachte. »Was machst du denn da?«
»Ich sitze seit drei Stunden hier rum, habe Hunger bekommen und mir etwas bestellt. Der Sushi-Bote hat nicht schlecht gestaunt, dass ich mein Abendessen vor der Haustür einnehme. Er wird sich wohl gedacht haben, dass meine Freundin mich rausgeworfen habe. Willst du einen Happen? Ich hätte noch Lachs-Nigiri, Maki mit Gurke und zwei Odaiko.«
»Nein, danke. Ich war mit einer Freundin unterwegs, wir haben unsere Jahresration Erdnüsse gegessen, und ich verspüre das dringende Bedürfnis, mir die Zähne zu putzen.«
»Darf ich dir dabei Gesellschaft leisten, oder fändest du das anstößig?«
»Perverser, du.«
Während ich mir mit viel Schaum die Krümel aus dem Mund schrubbte, besichtigte Yim meine Wohnung. Der Schreibtisch interessierte ihn besonders, und er scheute sich nicht, die eine oder andere Textseite in die Hand zu nehmen und zu lesen.
»Hast du schon mit dem Artikel angefangen?«, fragte er, sobald ich wieder sprechen konnte.
»Nein, ich weiß noch nicht, wie ich ihn aufbauen will und ob ich eure Namen nennen soll. Wie möchtest du heißen?«
»Cornelius. Ich wollte immer schon mal Cornelius heißen.«
»So hieß der Hahn meiner Großmutter. Er war ein herrschsüchtiges Miststück. Wenn wir meine Oma auf dem Land besuchten, hat er mich jedes Mal verfolgt.« Ich grinste. »Dreimal darfst du raten, was ich mir zu meinem dreizehnten Geburtstag zum Mittagessen gewünscht habe.«
Yim nahm mich in den Arm und drückte mich fest an sich. Unsere Küsse legten den Streit bei, ohne ihn zu lösen. Denn meine Meinung über Leonies Täterschaft hatte sich seit meinem Versöhnungsangebot auf Yims Mailbox erneut geändert, und wie ich mit seinem Vater verfahren sollte, wusste ich noch immer nicht, jedenfalls nicht mit letzter Sicherheit. Eigentlich gehörte er vor Gericht gestellt. Aber Yims Anblick war zu schön, seine Brust war zu warm und verlockend, als dass ich unnachgiebig geblieben wäre. Ich war zu allem bereit.
Er ebenfalls. Unsere Küsse wurden länger, die Umarmungen intensiver. Knöpfe öffneten sich. Ich jauchzte innerlich, dass es endlich so weit war. Mein Herz war begeistert, mein Kopf einverstanden.
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