Das Nebelhaus
durchschlugen.«
»Wie der Vater, so der Sohn«, sagte ich und bemerkte, dass Yim diesen Satz einige Sekunden lang verdauen musste, bevor er mit einem gezwungenen Lächeln zustimmte. Das Gespräch geriet vorübergehend ins Stocken, was ich schade fand, weil der Abend bis dahin so harmonisch verlaufen war.
In die Stille sagte ich: »Ich habe heute Leonie Korns Mutter getroffen.«
Nicht gut, dachte ich sofort, gar nicht gut. Wieso hatte ich bloß damit angefangen? Ich hatte mir ausgerechnet das sensibelste aller Themen ausgesucht, noch dazu war es schon einmal in die Hose gegangen. Ich hätte ihm Fragen über die kambodschanische Küche stellen können, über Wasserski, die Geschichte Indochinas, das Leben als Madame Butterflys Enkel, oder ich hätte von mir erzählen können, von meiner Arbeit … Das war das Stichwort. Natürlich hatte ich instinktiv von dem angefangen, was mir die ganze Zeit über im Hinterkopf herumging. Sogar die angenehme exotische Atmosphäre, Yim und die Bananenblätter, die Drinks und die Stones schafften es nicht, dass ich schwebte. Die Schwerkraft der Arbeit zog mich immer wieder auf die Erde zurück.
Yim reagierte gelassen. »Ich habe mir so etwas schon gedacht, als Sie von einem Termin in Hessen sprachen. Leonie Korn liegt in einer Klinik irgendwo im Taunus, soviel ich weiß.«
»In Bad Homburg. Leonies Mutter hat darauf bestanden, mich an ihrem«, fast hätte ich Totenbett gesagt, »in Leonies Gegenwart zu treffen. Es war ziemlich verrückt.«
»Leonie Korn war schon zu Lebzeiten verrückt. Ich habe sie in den paar Tagen auf Hiddensee nicht gut kennengelernt, aber sie war … Ich komme nicht auf das richtige Wort. Ich fand sie auf eigenartige Weise beunruhigend, und zwar vom ersten Moment an. Es hat eine heftige Auseinandersetzung zwischen Vev und ihr gegeben, wegen der verschwundenen Pistole. Ich war zufällig dabei.«
»Leonie Korns Mutter hat mir heute gesagt, dass ihre Tochter zu der Tat gar nicht fähig gewesen wäre.«
»Ich mache ihr deswegen keinen Vorwurf. Neun von zehn Müttern würden sich gegen den Gedanken sperren, dass das eigene Kind für den sinnlosen, brutalen Tod von drei Menschen und für die Traumata mehrerer anderer verantwortlich ist. Sie glauben der Mutter doch nicht, oder?«
»Zu viel spricht gegen Leonie«, sagte ich, auch um mich selbst davon zu überzeugen. »Ich habe die Akten studiert und komme zu dem gleichen Schluss wie die Polizei. Trotzdem … Ich finde, ich weiß noch zu wenig über das, was in den Tagen vor den Morden passierte. Wie hat sich die Situation entwickelt? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Leonie bereits mit der Absicht zu töten nach Hiddensee gefahren ist. Demnach muss etwas geschehen sein, das sie zur Raserei gebracht hat.«
»Wie gesagt, ich habe kaum zehn Sätze mit Leonie Korn gewechselt.«
Ich blickte in mein leeres Glas und fürchtete, Yim mit dem zu verärgern, was ich als Nächstes fragen wollte.
»Interessiert es Sie denn gar nicht, was Leonie Korn zur Mörderin gemacht hat?«
Er stocherte in seinem Essen herum. »Sehr wenig. Wissen Sie, es würde mir wehtun, zu erfahren, dass der Grund ein ganz banaler war. Vielleicht hat ihr jemand ein Schimpfwort an den Kopf geworfen, vielleicht ist ihr jemand auf den Fuß getreten, vielleicht hat jemand ihren Lieblingssänger lächerlich gemacht … Was spielt das für eine Rolle? Sie hat wahllos getötet, und meine Mutter hatte das Pech, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.«
»Möglicherweise … Es könnte doch sein …« Der Alkohol brachte mich dazu, einen Gedanken zu artikulieren, der seit Tagen in mir gereift war, sehr still, weshalb er auch für mich neu war. »Es könnte sein, dass Leonie nicht wahllos getötet hat, sondern gezielt. Dass der Amoklauf gar keiner war, oder zumindest nur ein halber. Dass sie eine genaue Vorstellung davon hatte, wer büßen sollte.«
»Büßen wofür?«
»Genau das interessiert mich. Ich möchte zu gerne nach Hiddensee fahren und mir die Szenerie ansehen, mit ein paar Leuten sprechen, ein paar Abläufe rekonstruieren, Atmosphäre schnuppern …«
»Ich höre ein ›Aber‹.«
»Gut möglich, dass ich spinne, in die Irre gehe, Gespenster sehe.«
Yim trank einen großen Schluck seines Mekong Sunset, den er bis dahin kaum angerührt hatte. »Gespenster lauern in dieser Geschichte überall«, sagte er. Und dann: »Den haben Sie gut gemixt, er schmeckt genau wie meiner.«
»Vielleicht sind wir Seelenverwandte«, sagte ich im Scherz
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