Das Nebelhaus
– aber womöglich war es keiner.
Ein paar Sekunden lang schwiegen wir, während Enya ihr letztes Lied beendete. Auf einmal wirkte der stimmungsvolle Raum bedrückend, fühlte ich mich im Dickicht meiner Gedanken beengt. Ich wollte gern nach Hiddensee fahren, wusste allerdings nicht, ob das irgendetwas bringen würde. Außerdem kostete die Reise Geld, das ich nicht eingeplant hatte, zweihundert Euro mindestens für Fahrt und Unterkunft. Drittens würde ich Staub aufwirbeln, der sich gerade erst gelegt hatte, was Yim wehtun könnte und damit mittelbar auch mir – falls ich mit ihm in Verbindung bleiben wollte. Wollte ich?
Eigentlich nicht.
Eigentlich schon.
»Ich hatte sowieso vor, dieser Tage nach Hiddensee zu fahren«, sagte er. »Das mache ich jedes Jahr. Berlin im August, Sie wissen ja – alle im Urlaub, das Geschäft ruht. Wenn Sie wollen, nehme ich Sie mit.«
»Ehrlich?«
»Klar. Mit Unterkünften sieht es auf Hiddensee wahrscheinlich mau aus, sanfter Tourismus, wenige Betten, Ferienzeit. Falls Sie nichts finden, also … Sie können gerne in meinem Kinderzimmer schlafen.«
»Im Haus Ihres Vaters?« Bei dem Gedanken wurde mir mulmig. Von dem mysteriösen Herrn Nan wusste ich schließlich nur, dass er am Telefon nichts zu sagen und schwer zu atmen pflegte.
»Ich weiß nicht recht. Wo werden Sie schlafen?«
»Auf dem Sofa im Wohnzimmer.«
»Was, wenn Ihr Vater mich nicht in seinem Haus haben will?«
»Ich rede mit ihm. Ich bin sicher, er wird nicht Nein sagen.«
Ich fühlte mich nicht ganz wohl bei der Sache, der innere Aufpasser riet mir ab. Doch wie alle Aufpasser war auch er nicht besonders beliebt und rief Trotzreaktionen hervor.
»Wieso tun Sie das?«, fragte ich.
»Wieso sind Sie heute Abend hier?«, antwortete er mit einer Gegenfrage. »Sehen Sie, deswegen.«
8
September 2010
Als Timo um halb neun nach unten kam, war Vev gerade dabei, den Frühstückstisch auf der Veranda zu decken. Er half ihr dabei und konnte sich an ihren Bewegungen nicht sattsehen. Die ruhige Art, wie sie Gegenstände in die Hand nahm und platzierte, wie sie ein Besteck oder einen Teller geraderückte, erregte ihn, und allein auf ihren Blick hätte er sich einen runterholen können.
Es herrschte Postkartenidylle: keine Wolke am Himmel, blühende Heckenrosen, leichter Wind, Brötchenduft, schönes Porzellan, zwei Kannen Kaffee, eine Kanne Tee, tausend Marmeladen.
»Ich habe dein Buch gelesen«, sagte sie.
»Ich habe es euch doch erst gestern gegeben.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Zweihundertneununddreißig Seiten. Ich war bis drei Uhr wach. Philipp hat sich beschwert, aber das war mir egal. Deine Figuren sind schlagfertig, sarkastisch, ein bisschen verrückt – ich mag das. Die Handlung ist irgendwie unheimlich, obwohl sie in einem bürgerlichen Milieu angesiedelt ist. Irgendwie erinnert mich die Atmosphäre an die Filme von Chabrol.«
»Danke schön. Du bist Chabrol-Fan?«
»Ich war Französischlehrerin, bevor ich Philipp geheiratet habe.«
»Ach! Und ich habe Romanistik studiert.«
»Siehst du, noch etwas, das wir gemeinsam haben.« Sie erläuterte nicht, welches die andere Gemeinsamkeit war, denn die Tatsache, dass sie es nicht erläutern musste, war die andere Gemeinsamkeit.
Timo wagte einen Vorstoß. »Yasmin als gestandene Esoterikerin würde jetzt sagen, dass wir Seelenverwandte sind.«
Vev ging zu seinem großen Bedauern nicht darauf ein. »Ich kann Yasmin gut leiden. Sie verstellt sich nicht, so etwas bewundere ich. Wenn sie Lust hat, an die Magie von Steinen sowie an alle fünf Weltreligionen auf einmal zu glauben und ganz nebenbei noch die Marxistin in sich zu kultivieren, hat sie meine volle Sympathie, obwohl ich mit nichts davon etwas am Hut habe.«
Timo wollte eigentlich nicht über Yasmin reden, wenngleich er zufrieden feststellte, dass Vev auch in diesem Punkt im Takt mit ihm ging. Aber ihm fiel nicht ein, wie er den Bogen zurück zur Seelenverwandtschaft spannen sollte.
»Philipp kommt nicht so gut mit ihr zurecht, stimmt’s? Ist er sauer, weil ich sie mitgebracht habe, ohne ihn zu fragen?«
»Ach, Philipp …«, sagte sie. »Für ihn sind Manieren sehr wichtig, für Yasmin dagegen sind Manieren – so wie ich sie einschätze – der Zuckerguss auf der Leberwurst. Ich kenne diesen Typus von früher, und ich kann ihre Einstellung nachempfinden, auch wenn ich selbst nicht den Mut zu ihrer Konsequenz habe.«
»Du hast mir noch nicht gesagt, ob er sauer auf mich ist.«
Die Antwort
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