Das Nebelhaus
nicht.
11
Yim und sein Vater gingen distanziert miteinander um, wenn auch nicht gerade unfreundlich. Zur Begrüßung gab es von Yim ein schlichtes »Hallo«. Herr Nan antwortete mit einem eifrigen Nicken. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie sich anders begrüßt hätten, wenn ich nicht dabei gewesen wäre, und stellte mir vor, dass sie sich stets wenig zu sagen hätten. Nach einer halben Stunde wären ihre Themen erschöpft.
»Das ist eine Bekannte von mir, Doro Kagel. Sie schreibt einen Artikel über den Amoklauf und wird in meinem Zimmer schlafen. Ich übernachte auf dem Sofa. Sie wird ein paar Tage unser Gast sein und das Nebelhaus besichtigen.«
Peng! Sonst noch Fragen? Yim ließ keinen Zweifel daran, dass es genau so geschehen würde, wie er es soeben geschildert hatte. Seiner Stimme nach zu urteilen, war für ihn ein Einspruch seines Vaters ungefähr so wahrscheinlich wie eine Befehlsverweigerung eines Rekruten gegenüber dem Feldwebel.
Herr Nan sah mich an und verneigte sich leicht. Seine Hinkelsteinfigur betonte er mit einem viel zu engen T-Shirt, das nur neun Zehntel seines hervorspringenden Bauches verdeckte. Wie schon auf dem Foto, das ich im Restaurant gesehen hatte, war seine Hose verrutscht.
»Guten Tag«, sagte ich.
Er und kein anderer war eine Woche zuvor mein schweratmiger »Gesprächspartner« am Telefon gewesen. Ich sah keine Notwendigkeit, Yim davon zu erzählen. Der Alte wirkte jedoch nicht so, als wäre er mir dafür dankbar. Hinter den korrekten Verbeugungen und Gesten, mit denen er mich in die Küche führte, mir einen Platz am Tisch anbot und ein Glas Wasser brachte, spürte ich – zurückhaltend ausgedrückt – sein Unbehagen über mein Erscheinen.
»Spricht er Deutsch?«, fragte ich Yim leise, als Herr Nan kurz die Küche verließ.
»Fast perfekt.«
»Er ist recht wortkarg.«
»Ja, anfangs ist er immer so. Wenn er dich erst besser kennt …«
Darauf war ich bereit zu verzichten, auch wenn es meine Arbeit erleichtern würde. Eine Unterhaltung mit Herrn Nan stellte ich mir in etwa so anregend und gelöst vor wie eine Unterhaltung mit Graf Dracula. Der Mann machte mich nervös, und alles, was er tat, sogar die unverfänglichsten Bewegungen wie das Aufsetzen des Teewassers, löste Wachsamkeit bei mir aus. Im Stillen fragte ich mich, ob Yim wohl noch einen Schlüssel für sein Jugendzimmer hatte, den er mir geben könnte.
»Sag mal, Vater«, begann Yim etwas später, als wir grünen Tee tranken, »wo ist eigentlich das weiße Büchlein, in das Mutter ihre Gedichte geschrieben hat?«
»Weg, fort«, antwortete Herr Nan ausführlich. So wie er es ausdrückte, hörte es sich an, als hätte das Büchlein eines Tages beschlossen auszuziehen.
»Sicher?«
»Ganz sicher.«
Herr Nan warf seinem Sohn abrupt einen äußerst merkwürdigen Blick aus seinen schwarzen Knopfaugen zu. Angst lag ebenso darin wie Groll, und mir wurde mulmig. Ich war darauf eingestellt gewesen, eine nicht gerade einladende Atmosphäre im Hause des Alten vorzufinden, aber das, was ich nach nur einer halben Stunde erlebt hatte, löste den Impuls in mir aus, laut »Taxi!« zu rufen.
Stattdessen trank ich den grünen Tee auf ex. Ich beschloss, den Beginn einer möglichen Auseinandersetzung von Vater und Sohn nicht abzuwarten.
»Ich bin etwas müde und würde gerne spazieren gehen«, sagte ich. Die Blödsinnigkeit dieses Satzes wurde mir erst im Nachhinein bewusst.
»Soll ich dich begleiten? Brauchst du den Schlüssel zum Nebelhaus?«
»Nein, lass nur, das hat Zeit. Du und dein Vater habt euch sicher viel zu erzählen«, log ich. »Danke für den Tee, Herr Nan. Also dann, bis später, Yim.«
Unabsichtlich hatte ich Yim zum ersten Mal beim Vornamen genannt. Ich war nach der halben Stunde im Haus seines Vaters anhänglich geworden, er kam mir vor wie ein Beschützer, wie ein Bollwerk gegen den kleinen Alten, den er im Zaum zu halten verstand. Nicht auszudenken, ich hätte mit Viseth Nan allein in seiner Küche gesessen! Ich nahm mir vor, mich auf Yims Tagesplanung einzustellen, um einer Zweisamkeit mit Herrn Nan aus dem Weg zu gehen. Er würde mir ohnehin kein Interview geben, keine Einblicke gewähren. Im Gegenteil, er schien entschlossen, mir die Arbeit zu erschweren, wie mir seine Reaktion auf Yims Frage nach dem Gedichtbüchlein zeigte.
Ich ging in Richtung des Meeres, das man vom Garten aus zwischen dem Blattwerk der Bäume sehen konnte. Mir war nach Weite und frischer Luft zumute. Aber die von mir erhoffte
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