Das Nebelhaus
Erquickung beim Anblick des Meeres blieb aus. Der Himmel war niedrig, die Wellen träge. An die dreißig Leute lagen verteilt über den kleinen Strand der Bucht und langweilten sich, enttäuscht über das Ausbleiben eines Sonnenbrands. Ein junges Pärchen spielte Softball, wobei sie alle beide idiotischerweise versuchten, sich dabei möglichst wenig zu bewegen.
Ich setzte mich auf eine Holzbank, die noch zum Nan-Anwesen gehörte, wie unschwer zu erkennen war. Als einziger Neuendorfer hatte Herr Nan einen Zaun um sein Grundstück gezogen, der zwar nur hüfthoch und im beklagenswerten Zustand war, aber symbolisch sehr bedeutsam. Das hier ist Nan-Land, sagte der Zaun. Ich suchte im Geiste krampfhaft nach einem Bild, das mir Herrn und Frau Nan gemeinsam auf der Bank zeigte, händchenhaltend, den Blick nach Westen in die untergehende Sonne gerichtet. Doch es wollte sich einfach nicht einstellen, nicht bei diesem Alten.
Ich sah nur Yims Mutter, die schmächtige Greisin mit dem kleinen Mund und dem Haarknoten, die Kambodschanerin, die noch ihre Heimat in den Augen trug. Diese Bank war ihre, nur auf ihren Wunsch hin aufgestellt, und abends, wenn der Strand sich geleert hatte, war ihr Blick über das Meer geglitten, wer weiß wohin. Vielleicht zurück in das Dorf ihrer Jugend, zu einem Haus ganz anderer Art als dem mit der Aluminiumtür und den Spatzenfenstern, vielleicht auch zu den Wendepunkten ihres Lebens, der Hochzeit, Yims Geburt, der Flucht aus Kambodscha, oder in die Zukunft, von der sie sich noch das eine oder andere versprach.
Frau Nan war betrogen worden, so wie alle Mordopfer.
Die eines natürlichen Todes oder bei einem Unfall Verstorbenen werden dagegen nicht betrogen, denn der eigene Körper betrügt nicht, er spiegelt bloß, und das Schicksal hat keine kriminelle Energie; es ist wie es ist. Ein Mörder aber ist zugleich ein Betrüger, denn er bringt seine Opfer um ihr Erspartes, für die Zukunft Aufgespartes. Er ist kein Schicksal, sondern er spielt Schicksal, religiöse Menschen würden sagen, er spielt Gott. Dabei ist es gleich, ob der Mörder ein Kind oder eine Siebenundsechzigjährige tötet, er tötet immer die Hoffnung.
Ich habe damals mehr um Bennys verhinderte Zukunft geweint als um ihn als Person. Meine Eltern vermissten ihren Sohn, seine Nähe, seine frechen Worte, seine Vorliebe für Bananensaft, seine verschwitzten Trikots, sogar seine eher schlechten Schulnoten. Ich vermisste ihn natürlich auch – der große Bruder war weg –, aber was mich wirklich fertigmachte, war etwas anderes. Seit seinem Tod habe ich an jedem Tag meines Lebens gedacht: Was würde Benny wohl gerade tun, wenn er noch leben würde? In welche Frau würde er sich verlieben, welchen Schulabschluss machen, welchen Beruf ergreifen, welche Urlaubsziele wählen? Ich habe nie eine Antwort bekommen, und diese Erkenntnis fährt jedes Mal wie ein Blitz in mein Herz.
Auf der Bank unweit des Meeres zuckte ich wieder einmal zusammen. Ich überlegte, wie schön es wäre, wenn Benny in diesem Moment neben mir säße. Dann aber fiel mir ein, dass ich vielleicht nur wegen dem, was ihm widerfahren war, auf dieser Bank auf Hiddensee saß, und bei dem Gedanken wurde mir unwohl.
Ich stand auf und erkundete das Grundstück hinter dem Haus. Es war größer, als ich zunächst angenommen hatte, allerdings überwiegend ungenutzt. Der wunderschöne Bauerngarten machte nur einen kleinen Teil aus, der Rest bestand aus sandigen oder ungepflegten Rasenflächen, zwischendrin vereinzelte Birken und Pappeln. Der einzige Blickfang war der Schuppen in seinem üppigen Blütenkleid. Ich ging einmal um ihn herum, wobei ich erneut darüber staunte, dass dieser kleine, unförmige, unsympathische Mann mit den gelben Zähnen, der schiefen Hose und dem argwöhnischen Gehabe der Urheber dieser Pracht sein sollte. Doch ich fand mich damit ab.
Beinahe hätte ich das Tor zum Schuppen übersehen, denn es war halb zugewachsen. Eine weiße Clematis und eine gelbe Kletterrose ragten in die Lücke, die der Hausherr offenbar nicht mehr freischnitt. Ich fragte mich, warum. In einem Schuppen von dieser Größe stand sicherlich allerlei, auf das man von Zeit zu Zeit zugreifen musste. Altes Gerümpel hatte mich schon immer interessiert, vor allem, wenn es nicht mehr genutzt wurde: Grasgabeln, verrostete Schaufeln, Stehlampen von überragender Hässlichkeit, Heimstätten für Holzwürmer … Solche Dinge atmen Geschichte und Geschichten aus. Zudem hoffte ich, dass ein Teil von
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