Das Nest des Teufels (German Edition)
entlang. Nachdem ich einige Minuten gegangen war, merkte ich, dass ich kein künstliches Licht brauchte. Als ich die Lampe ausknipste, wurde das Zwielicht, das der Lichtkegel bisher ausgegrenzt hatte, freundlicher. Der Fels war eben, der Pfad gut markiert. Die nächtlichen Sänger veranstalteten ein lebhaftes Konzert, die Nachtigall wetteiferte mit dem Uhu. Der Feldhase, der über den Felsen sprang, war nicht von mir aufgeschreckt worden. Etwa einen Meter über mir flammten rote Augen auf, verschwanden aber gleich wieder. Ihr Besitzer bewegte sich lautlos.
Der Steinturm sah genauso aus wie früher. Ich untersuchte ihn im Licht der Stirnlampe, entdeckte aber keine Anzeichen dafür, dass sich jemand an ihm zu schaffen gemacht hatte. Vielleicht würde diese Information David zufriedenstellen. Ich setzte mich an den Fuß des Turms, um auf die ersten Sonnenstrahlen zu warten und den Vögeln zu lauschen. Der Uhu war näher gekommen, ich sah ihn auf der Suche nach kleinen Nagetieren über den Wald fliegen. Ich spürte, wie mir an den Schläfen Luchsohren wuchsen, und drehte sie langsam hin und her. Am Ende der Wirbelsäule bildete sich ein Schwanzstummel, ich fuhr die Krallen an den Vorderpfoten aus und zog sie wieder ein. Als ich aufstand, sahen meine Augen in der Morgendämmerung jede Einzelheit ganz scharf, meine Ohren hörten die Schritte eines Rehs am Ufer. Der Luchs steckte noch in mir, als die ersten Sonnenstrahlen einen violetten Schimmer an den östlichen Himmel warfen und ich den Pfad hinunterstieg. Ich ging ans nördliche Ende des Sandstrandes, zog Schuhe und Strümpfe aus und rollte die Hosenbeine auf, damit ich bis zur Råbergintie durch das flache Wasser waten konnte. Bei dem überdachten Grillplatz standen ein Wohnmobil und ein Pkw, beide mit russischem Kennzeichen, daneben war ein Zelt aufgeschlagen. Barfüßig schlich ich daran vorbei, um niemanden im Schlaf zu stören. Erst als ich die Straße erreichte, zog ich die Schuhe wieder an. Das schräg einfallende Sonnenlicht wurde intensiver, als ich zum Wagen ging.
Plötzlich spürte ich, dass etwas Neues anwesend war, gerade so, als ob meine Mutter neben mir wäre, oder eher über mir in der Luft und gleichzeitig in mir. Als hätte sich ohne mein Zutun ein Tor geöffnet. Seit ihrem Tod war meine Mutter mir nie so nahe gewesen wie an jenem hellen Sommermorgen, als ich begriff, dass ich nicht nur die Tochter eines Mörders war. In meinen Adern floss auch das Blut meiner Mutter.
28
«Usko Artturi Syrjänen, willst du diese Julia Iwanowa Gerbolt als deine Ehefrau lieben und ehren, in guten wie in schlechten Tagen?»
«Ja.» Syrjänens Stimme war fest, seine Antwort drang bis in den letzten Winkel des Sans Nom. Da Braut und Bräutigam unterschiedlichen Konfessionen angehörten, hatten sie sich für eine Ziviltrauung entschieden. Das Restaurant war gut gefüllt. Die russische Illustrierte, der Julia das Exklusivrecht an einem Bericht über ihre Hochzeit verkauft hatte, hatte zwei Fotografen und einen Reporter geschickt. Einer der mit Syrjänen befreundeten Minister hatte seinen eigenen Leibwächter mitgebracht, Gezolian wurde von Lescha begleitet. Außer Pete Vesterinen waren noch zwei weitere Sicherheitskräfte anwesend, die ich angeheuert hatte. Einer der beiden saß in dem kleinen Nebenraum vor den Monitoren der Überwachungskameras. Satu Syrjänen und andere ungebetene Gäste sollten keine Chance haben, die Feier zu stören. Pete stand draußen vor dem Eingang und sah aus wie der Prototyp eines Objektschützers, einen Earbud im Ohr, die Arme vor der Brust des gutsitzenden Anzugs verschränkt. Ich hatte Syrjänen darauf hingewiesen, dass nach außen sichtbare Sicherheitsvorkehrungen Aufsehen erregen würden, doch er sagte, das mache ihm nichts aus.
Das Sans Nom war kaum wiederzuerkennen, denn die Dekoration, die Julia ausgewählt hatte, wich ganz und gar vom Stil des Restaurants ab. Die weißen, goldbestickten Vorhänge und Tischtücher waren verschwenderisch gefältelt, die Blumenarrangements aus weißen und gelben Orchideen erhoben sich auf Podesten zwei Meter hoch. Julia war atemberaubend schön, obwohl sie schon früh um fünf aufgestanden war, um sich frisieren und schminken zu lassen.
Da die Ziviltrauung an sich eher schlicht war, wurde sie von anderen Programmpunkten umrahmt. Ein russischer Tenor sang, von einer klassischen Gitarre begleitet, zwei romantische Lieder. Julia und Usko legten sich gegenseitig selbstverfasste Traugelübde ab, die so
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