Das Nest des Teufels (German Edition)
lenken? Die Schachtel hatte sich in Syrjänens Nachttisch befunden, aber die Schlafzimmertür war nicht abgeschlossen, jeder im Haus konnte das Zimmer betreten. Zum Beispiel Hanna.
«Kannst du nicht schneller fahren?», fragte Julia, als ich auf die Schnellstraße abbog.
«Hier gibt es Geschwindigkeitskontrollen.»
«Ich hab Geld genug, um die Strafe zu zahlen, wenn du geblitzt wirst.»
Darum ging es nicht. Ich wollte der Polizei nicht auffallen, das war jetzt wichtiger als je zuvor. Laitio konnte mich nicht mehr schützen, und die Abgeordnete Helena Lehmusvuo würde niemandem zur Seite stehen, der in kriminelle Handlungen verstrickt war. Ich durfte mir keinen Fehler erlauben. Bald würde ich im Kloster Sant’Antimo um Asyl bitten müssen – aber Frauen wurden dort vermutlich nicht aufgenommen.
Julia schrieb eine SMS , die bald beantwortet wurde. Ich hörte sie aufschluchzen, dann klingelte ihr Handy. «Papa», begann Julia und sprudelte auf Russisch los. Gezolian also. Vielleicht war ich meinem Ende näher, als ich bisher geglaubt hatte. Offenbar hatte Gezolian zu tun, denn das Telefonat dauerte nur gut eine Minute.
Nach dem Gespräch mit ihrem Vater hatte sich Julia so weit beruhigt, dass sie ihren Schminkbeutel hervorholte und ihr Gesicht herrichtete. Puder, Mascara, Lipgloss. Routiniert schminkte sie sich im fahrenden Auto. Zuletzt kämmte sie sich und fixierte die Frisur mit Haarspray. Die Verletzlichkeit, die sie vorübergehend gezeigt hatte, verschwand hinter dem Make-up. Ich hatte von einer Jet-Set-Schönheit gehört, die sich angeblich selbst ihrem eigenen Mann nie ungeschminkt zeigte. Das verstand ich sehr gut. Es konnte gefährlich sein, die Maske abzulegen.
Der Krankenwagen war längst wieder unterwegs, als wir die Klinik erreichten. Wir machten uns auf den Weg zur Notaufnahme. Sollte ich Julia einfach allein warten lassen und mich absetzen? Mein Pass lag in der Stadtwohnung, meine Waffe in Långvik. Aber wohin sollte ich fliehen? Es wäre nicht das erste Mal, dass ich kopflos davonlief, und im Moment hatte ich mehr Geld auf dem Konto als seit Jahren. Damit würde ich einige Monate auskommen.
An diesem Punkt rief ich mich zur Ordnung. Wenn ich jetzt weglief, begriff Gezolian sofort, dass ich etwas zu verbergen hatte. Es blieb mir nichts anderes übrig, als geduldig zu warten wie ein Luchs, der auf einem Ast oder in einer Felsnische auf seine Beute lauert.
Im Warteraum herrschte Gedränge. Als ich am Schalter Syrjänens Namen nannte, horchte die Krankenschwester auf. Ich bemühte mich, möglichst leise zu sprechen. Patientendaten fielen unter den Datenschutz und durften nicht öffentlich verbreitet werden, aber es gab schließlich auch überall Leute, die Informationen ins Internet einstellen. Syrjänen war eine bekannte und umstrittene Persönlichkeit.
Wir mussten etwa zwei Stunden warten. Juri rief an und fragte, ob er auch zur Klinik kommen sollte. Ich sagte ihm, er werde hier nicht gebraucht, und bat ihn, die Kontaktdaten der Vatanens herauszusuchen.
«Usko wird doch überleben? Wie ist es bloß möglich, dass er zu viel Medikamente genommen hat?» Juri hätte gern länger geredet, doch ich beendete das Gespräch. Für Spekulationen war jetzt nicht der geeignete Moment.
Julias Magen knurrte, sie hatte nicht gefrühstückt. Ich fragte, ob ich ihr etwas aus der Cafeteria holen sollte, und sie bat um einen Milchkaffee. Irgendwann schickte mir Juri per SMS die Handynummer von Jukka Vatanen.
Endlich kam eine etwa dreißigjährige, erschöpft aussehende Ärztin und rief die Angehörigen des Patienten Syrjänen aus. Zum Glück war sie so vernünftig, seinen Vornamen nicht zu nennen. Zu meiner Überraschung klammerte sich Julia an meine Hand, als wir der Ärztin in eine kleine Abstellkammer folgten, wo wir vor neugierigen Ohren geschützt waren.
«Wer von Ihnen ist die Verlobte von Usko Syrjänen?», fragte die Frau auf Finnisch. Auf dem Namensschild an ihrem Kittel stand Dr. med. Nina Wirtanen.
«Sie», antwortete ich und zeigte auf Julia. «Frau Gerbolt spricht nicht Finnisch, nur Russisch und Englisch.»
Die Ärztin, die in Eile zu sein schien, wechselte sofort zum Englischen über und erklärte, man habe Syrjänen den Magen ausgepumpt und halte ihn nun im Aufwachraum unter Beobachtung.
«Es besteht keine Lebensgefahr. Der Mageninhalt und eine Blutprobe sind zur Analyse ins Labor geschickt worden. Offenbar hatten Sie den Verdacht, die Bewusstlosigkeit sei auf eine Interaktion von
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