Das Nest
Lin…« Und dann kamen die Tränen.
Lindsay streichelte ihr übers Haar. »Komm, hör auf zu weinen, Debs. Cara wird schon auf dich warten.«
Deborah wischte sich mit Lindsays zerknittertem Taschentuch die Tränen aus dem Gesicht und putzte sich kräftig die Nase, bevor sie Arm in Arm zum Camp zurückspazierten. Sobald sie in Sichtweite kamen, stürmte Cara auf sie los. Hinter ihr erschien zu Lindsays Überraschung Cordelia im Designer-Jogginganzug und grünen Gummistiefeln und strahlte mit schwarzen, im Wind wehenden Haaren Ruhe und Gelassenheit aus.
Während Mutter und Tochter ein lautes und tränenreiches Wiedersehen feierten, begrüßte Cordelia Lindsay mit einer zärtlichen Umarmung. »Ich konnte doch nicht so in London sitzen bleiben, ohne zu wissen, was hier los ist«, erklärte sie. »Auch wenn ich nichts tun kann, ich mußte einfach herkommen.«
Lindsay lächelte wieder und sagte: »Es tut gut, dich zu sehen. Ich freue mich. Wie lange kannst du bleiben?«
»Bis Mittwoch mittag. Jane hat mich schon in die wichtigsten Neuigkeiten eingeweiht. Und wie geht’s jetzt weiter, nach deiner offiziellen Ernennung zur Miss Marple der Friedensaktivistinnen? Muß ich sofort durchstarten, um dir ein Strickmuster und ein Knäuel weicher Wolle zu besorgen?«
»Sehr witzig. Ich bin mir überhaupt nicht sicher, was ich eigentlich tun soll. Aber ich muß mit Debs über gestern nacht reden. Ich hab’ sie schon gewarnt, mit niemand anderem darüber zu sprechen. Klar – Duncan will, daß ich ein Interview mit ihr mache, aber der Richter wird ihn keine Zeile davon drucken lassen. Wahrscheinlich sollte ich mich auch um die Familie kümmern. Mit dem Polypen, der die Untersuchung im Moment leitet, einem Kommissar Rigano, komme ich ganz gut zurecht. Ich werd’ heute nachmittag noch bei ihm vorbeischauen. Aber jetzt komm. Den Rest erzähl’ ich dir beim Bier.«
Lindsay schluckte das emotionale Durcheinander, das Cordelias Erscheinen in ihr ausgelöst hatte, herunter und berichtete der Geliebten alles, was sie über den Mord wußte. Sie saßen über einer Schüssel Suppe im nächsten Lokal, das Friedensaktivistinnen akzeptierte und fast fünf Kilometer vom Camp entfernt war. Voll von begeistertem Tatendrang bestand Cordelia darauf, daß sie sofort und in ihrem Wagen in Richtung Brownlow Common Cottages aufbrachen. Im Gegensatz zum bescheidenen Namen handelte es sich dabei um eine Ansammlung von im georgianischen Stil entworfenen und erbauten herrschaftlichen Landhäusern.
Es war absolut unverkennbar, bei welchem Gebäude es sich um die Heimstatt der Crabtrees handelte. Sie erblickten ein zweistöckiges Haus mit weißer Stuckfassade von imponierenden Ausmaßen. Die Rundbogenfenster zierten Imitationen georgianischer Scheiben aus grünem Flaschenglas. Ein von Palladiosäulen getragener Giebel war an den Eingang geklebt worden. Auf der einen Seite führte eine fünfzig Meter lange Auffahrt zur Doppelgarage hinauf. Vor dem Gebäude erstreckte sich eine sorgsam angelegte und gepflegte Rasenfläche mit Krokussen, die gerade abgeblüht waren. Auf der Straße vor dem Anwesen parkten hintereinander aufgefädelt an beiden Seiten der Fahrbahn etwa zwölf Autos, die meisten neueren Baujahrs. Neben dem Schmiedeeisenzaun, der in die niedere, weiß getünchte Mauer eingelassenen war, standen sich schnatternde Männer in teuren Mänteln die Beine in den Bauch. Einige andere Journalistinnen schlichen gelangweilt um ihre Fahrzeuge. Alle paar Minuten löste sich einer der Reporter von seiner Gruppe und schlenderte die Auffahrt hinauf, um an der Tür zu läuten. Nie gab es auch nur das Anzeichen einer Reaktion, nicht einmal ein Bewegen der Vorhänge, hinter denen sich die Bewohner vor den Blicken der Neugierigen verbargen.
»Die Ratten sind am Werk«, murmelte Lindsay, als sie aus dem Wagen stieg und auf ihre Kollegen zuschritt. Bald erspähte sie ein bekanntes Gesicht: Bill Bryman, den Kriminalreporter des London Evening Sentinel. Sie begrüßte ihn und erkundigte sich nach den Vorgängen.
»Scheißjob«, antwortete er bitter. »Ich bin seit acht Uhr da, und glaubst du, die Redaktion zieht mich ab? Einen Dreck tut sie! Ganz am Anfang ist der Sohn zur Tür gekommen und hat erklärt, daß sie keine Interviews geben. Seither tut sich überhaupt nichts. Wenn du mich fragst, haben sie die Glocke abgestellt. Ich hab’ im Büro angerufen, ihnen klarzumachen versucht, daß es reine Zeit Verschwendung ist, länger dazubleiben, aber du kennst ja die
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