Das Nest
Geschehene einholte, startete sie schnell und zog davon. Wie immer verbesserte das Autofahren ihr psychisches Gleichgewicht, und als sie in Brownlow ankam, war sie wieder ziemlich ruhig. Sie peilte gleich das Rote-Kreuz-Zelt an, wo Jane auf einer Pritsche lag und einen Roman las. Lindsay bewunderte wieder einmal die Fähigkeit der Friedensaktivistinnen, sich unter derart außergewöhnlichen Lebensumständen ganz normalen Tätigkeiten zu widmen. Mit schlechtem Gewissen brach sie in Janes wohlverdiente Ruhepause ein und umriß in wenigen Worten, was sie brauchte und weshalb. Sie übte eine Art von überzeugendem Druck aus, dem sich Jane nicht entziehen konnte. Die Ärztin stimmte dem Plan zu.
Lindsay wartete, bis die Dämmerung hereinbrach und borgte sich dann von einer der Frauen eine 2CV-Ente aus. Sie fuhr zuerst zur Klinik und machte dann eine Erkundungsfahrt durch die Gegend, bevor sie ins Camp zurückkehrte. Zum vereinbarten Zeitpunkt traf sie wieder mit Jane zusammen, und gemeinsam packten sie ihre Sachen in den Campingbus. Dann machte Lindsay noch das Bett in der Schlafkoje und bereitete Cara für die Nacht vor.
Um zwanzig nach sieben stieg sie in ihren MG und raste auf der kurvenreichen Straße in die entgegengesetzte Richtung des Krankenhauses. Einen halben Kilometer weiter sah sie das Paar Scheinwerfer, diesmal zu einem grünen Ford gehörend, zum ersten Mal in ihrem Rückspiegel. Sobald sie aus der Innenstadt heraus wäre, würden ihre Verfolger aufschließen müssen oder das Risiko eingehen, sie aus den Augen zu verlieren. Und schon wenig später zeigte sich, wie richtig diese Überlegung war. Dank ihrer Vorbereitungen konnte sie den Wagen durch Einbiegen in eine schmale Gasse und eine Abkürzung durch eine Einbahnstraße in verbotener Fahrtrichtung abschütteln. Dann zuckelte sie gemütlich zu einer mittelgroßen Industrieanlage neben der Autobahn. Sie ließ den Wagen in einem Parkhaus hinter den Produktionshallen stehen. Dort wartete auch Jane bereits mit dem Bus auf sie. Zusammen fuhren sie direkt zum Fordhamer Krankenhaus. Lindsay zeigte Jane den Weg zu einer kleinen Verladefläche hinter dem Hauptgebäude.
Lindsay kauerte sich neben Cara, die in der Koje ständig zwischen Wachen und Schlafen hin- und hertaumelte. »Versprichst du mir, daß du ganz ruhig bleibst, bis wir zurückkommen? Es wird nicht lange dauern. Wir holen deine Mami, aber sie ist noch sehr schwach und deshalb mußt du ganz lieb zu ihr sein. In Ordnung?« Cara nickte. »Wir sind ganz bestimmt gleich wieder da. Schlaf noch ein bißchen.« Sie streichelte über Caras Haare und kletterte hinaus zu Jane.
Da noch Besuchszeit war, gelangten sie ohne besondere Aufmerksamkeit zu erregen auf Deborahs Station. Rasch überzeugte Lindsay sich davon, daß die Umgebung des Raumes nicht unter Bewachung stand, dann schlüpften die beiden in Deborahs Zimmer. Während der sechsunddreißig Stunden, die seit Lindsays letztem Besuch hier vergangen waren, hatte Deborah bedeutende Fortschritte gemacht. Sie saß mit den Polstern im Rücken aufrecht im Bett und sah fern. Die tödliche Blässe war verschwunden. Sie sah aus, als befände sie sich wirklich auf dem Weg der Besserung. Auch von den Tropfen war nichts mehr zu sehen. Bei ihrem Eintreten grinste sie übers ganze Gesicht. »Na endlich«, rief sie. »Ich dachte schon, ihr hättet mich ganz vergessen.«
»Ganz im Gegenteil«, widersprach Lindsay und ging zu ihr hin, um ihr einen Kuß zu geben. »Hör zu, wir haben jetzt keine Zeit, dir alles zu erklären. Aber du mußt hier raus. Die Ärzte meinen, daß der Transport nicht mehr gefährlich ist, und Jane hat versprochen, sich um dich zu kümmern.«
Jane nickte und griff nach dem Krankenplan am Fußende des Betts. »Anscheinend ist dein Zustand gerade ziemlich stabil«, bemerkte sie. »Mach dir keine Sorgen, Deborah, ich paß’ auf dich auf.«
»Das glaub’ ich schon, Jane. Aber worum geht’s hier eigentlich, Lin? Wieso kann ich nicht hierbleiben? Wenn ich hier nicht sicher wäre, hätte die Polizei doch nicht die Wachen abgezogen?«
Lindsay seufzte. »Ich weiß, daß dir mein Verhalten ziemlich eigenmächtig vorkommen muß, aber das passiert alles nur, weil ich Angst um dich habe. Du bist überfallen worden, weil Rupert Crabtrees Mörder glaubt, daß dein Wissen ihm gefährlich werden könnte. Die Einzelheiten erklär’ ich dir alle später, bitte vertrau mir in der Zwischenzeit. Ich kann dir nur so viel sagen, daß die Polizei nicht bereit ist,
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