Das Netz der Schattenspiele
Amico hineinkam, stand auf einem anderen Blatt.
Zunächst musste sie jedoch erst einmal Enesa verlassen. Das erwies sich als nicht unbedingt leichte Aufgabe. Nachdem sich ihr Gefährt nämlich gemächlich wie ein Schwan dem großen Wassertor genähert hatte, musste sie sich in die Schlange der Ausreisewilligen einreihen – Patronen der verschiedensten Größen und Bauarten. Weiter vorne auf einem Kai befanden sich die Wachhäuschen. Und davor standen die Kontrolleure.
Diese Berufsgattung zog offenbar ausnahmslos unfreundliche Gesellen an, deren einziger Lebenszweck in der Zurückweisung Reisender zu bestehen schien. Kontrolleure bewachten die Mauern so gut wie jeder Stadt. Sie lauerten außerhalb des Stadtgebietes, um Ankommende wegzuschicken, und sie standen drinnen, um den Abreisenden ihre Pläne auszureden. Wenn sie einmal doch keinen Grund fanden, jemandem das Reisen zu versagen, dann empfanden sie das als persönliche Schmach. Es gehörte zum Berufsethos eines Kontrolleurs, niemals zu lächeln.
»Wo wollt Ihr hin?«, blaffte ein Klotz von Mann Stella an, als sie nach einiger Wartezeit endlich an der Reihe war. Er steckte in einer Blechrüstung, die sich durch eine Vielzahl von Dellen auszeichnete. Anscheinend kommt es hier öfter zu gewissen »Zwischenfällen«, dachte Stella. An seinem breiten Gürtel baumelte ein Schwert, das sie allein schon durch seine Breite beeindruckte. Der kraftstrotzende Mann stand oben auf dem gemauerten Kai, Stella saß in der geöffneten Luke ihrer Patrone. Eine schlechte Verteidigungsposition. Die Frage des Blechmannes hatte sie wie ein Schwall kalten Wassers getroffen.
Zögernd antwortete sie: »Ich… So richtig bin ich mir selbst noch nicht darüber im Klaren.«
»Ohne Zielort keine Ausreise«, entgegnete der Kontrolleur ebenso barsch wie wortkarg.
»Nun, mein nächstes Ziel ist Amico, aber dann…«
»Amico also«, unterbrach sie der Blecherne. Sein stählerner Helm umrahmte eine ausdruckslose Miene. Der Kontrolleur begann nun in seiner Liste zu suchen, die aus zwei papierummantelten Stöcken bestand. Zum Lesen musste er von einem Stab etwas Papier abrollen. Hatte er den Streifen geprüft, wickelte er ihn mit Hilfe des anderen Stockes wieder auf und die ganze Prozedur begann von vorne. Endlich hatte der Kontrolleur das Ende seines umfangreichen Dokuments erreicht und sah sie streng an.
»Was ist?«, fragte Stella ahnungsvoll.
»Amico steht hier nicht drauf«, blaffte der Blechmann zurück.
»Ist das gut oder schlecht für mich?«
Anstatt zu antworten, rollte der Kontrolleur seine Liste einfach wieder langsam und gründlich ganz bis auf den ersten Stab zurück. Doch am Ergebnis änderte sich dadurch nichts.
»Ich kann hier keine Stadt mit Namen Amico finden.«
»Seht Ihr«, sagte da Stella forsch, denn sie hatte für sich beschlossen, dieser Umstand könne nur von Vorteil sein.
»Also gut«, meinte der Kontrolleur nach reiflichem Zögern. »Ich finde keinen Grund, Euch zurückzuhalten…«
Stella wollte schon aufatmen.
»… falls Ihr ein gültiges Reisevisum besitzt. Zeigt es einmal her.«
Für einen Moment war Stella wie versteinert. So vertraut ihr das Reisen in Illusion erschien, als sie in die Patrone eingestiegen war, so unüberwindlich kamen ihr nun die Hindernisse vor. War das schon immer so gewesen?
»Ich…«
»Nun zeigt mir endlich Euren rechten Unterarm«, herrschte sie der Blecherne an.
»Meinen Unterarm?« Stella schob langsam den Ärmel ihres Hemdes hoch. Und entdeckte voller Erstaunen eine in mehrere Abschnitte unterteilte Ziffernfolge.
197.23.111.215
Das unergründliche Zahlenwerk leuchtete auf Stellas Unterarm wie eine gelbe Kerzenflamme, ohne ihr allerdings in irgendeiner Weise Schmerz zu bereiten. Nie war es ihr bisher aufgefallen.
Während sie noch staunend darüber nachdachte, wann ihr diese flammende Tätowierung – oder worum es sich auch immer handelte – beigebracht worden war, sah der Kontrolleur schon wieder in einer anderen Liste nach. Diesmal dauerte es nicht ganz so lange, offenbar ließen sich die gestaffelten und geordneten Zahlen schneller nachprüfen.
Der Blecherne stieß die Luft durch die Nase aus, als habe er gerade eine schwere Niederlage erlitten. Stella wurde es bange. Welche Schikane würde sich der strenge Stadtbeamte wohl nun für sie ausdenken?
»Ihr könnt reisen.«
Stella blickte überrascht in das ausdruckslose Gesicht des Beamten.
»Habt Ihr nicht gehört?«, wiederholte der Blecherne gereizt. »Ihr
Weitere Kostenlose Bücher