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Das Netz der Schattenspiele

Titel: Das Netz der Schattenspiele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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ebenso wie auch das weniger Wichtige, innerhalb der weit gesteckten Stadtgrenzen an- und abgebaut, her- und aufgestellt werden. Zum Herrschaftsbereich Enesas gehörten Felder, Plantagen, große Wälder, Bergwerke, Porzellanmanufakturen, Spinnereien, Exerzierplätze, Orte der Muße, Friedhöfe, Sammelplätze für Unrat – eben alles, was Sinn machte oder zumindest den Anspruch darauf erhob.
    Schon von weitem mussten aber jedem, der sich der Stadt näherte, ihre imposanten Türme auffallen. Größer als selbst die mächtigsten Häuser schraubten sie sich mit ihren außen angebrachten Rampen in luftige Höhen hinauf. Oben liefen sie alle spitz zu, wie kolossale, auf die Wolken gerichtete Speere. Nicht nur Stein und Holz waren in den monumentalen Gebäuden verbaut, sondern auch Gold und Silber, Perlmutt und Elfenbein, Kupfer und Stahl. Wenn die Sonne ihr Antlitz auf die Stadt herabsenkte, dann glitzerte deren atemberaubende Silhouette wie der Schatz eines gewaltigen Riesen.
    Im Moment jedoch befand sich das Himmelsgestirn noch in Wartestellung hinter dem Horizont. Stella wollte Enesa verlassen haben, bevor das hektische Treiben des Tages einsetzte und damit dessen ganze Unwägbarkeiten. Das geheimnisvolle Verhalten des blau-grünen Boten hatte ihre Vorsicht ebenso geweckt wie die in der Botschaft enthaltenen Warnungen.
    »Hast du eine Patrone im Hafen?«, fragte Sesa Mina, als sei die Schifffahrt für ein Frettchen das Natürlichste von der Welt.
    »Selbstverständlich«, entgegnete Stella und wusste auch diesmal nicht, woher sie diese Sicherheit nahm. Jedenfalls sollte sie Recht behalten. Schon bald erreichten sie den Hafen. Er lag mitten in der Stadt, am Fuße der gewaltigen Mauer.
    Stella schauderte beim Anblick dieses so gut wie unüberwindlichen Walls. Die Stadtmauer von Enesa brannte. Dies war durchaus nichts Ungewöhnliches, kein Anlass zur Panik – nicht einmal die Brandwehr interessierte sich dafür. Die Mauer Enesas stand immer in Flammen, Tag und Nacht – ein sehr probates Mittel, um unerwünschte Elemente von der Stadt fern zu halten und den Fluss der Handelsgüter allein durch das gut bewachte Wassertor zu lenken.
    Bald hatte Stella ihre Patrone am Kai gefunden. Das sehr kleine Gefährt war gerade geräumig genug, um sie, ihr Frettchen und das Gepäck aufzunehmen. Patronen waren Wasserfahrzeuge, die größtenteils aus Glas bestanden. Vorne liefen sie beinahe spitz zu, ähnlich der Schnauze eines Delfins. Das Heck dagegen besaß fast denselben Durchmesser wie das Mittelteil. Fünf nietenbesetzte Bänder aus Messing umspannten den Glaskörper und gaben ihm Festigkeit. Achtern waren an Steuer- und Backbord aus Gründen der Stabilität je zwei Flossen angebracht.
    In die Patrone selbst gelangte man durch eine Luke, die, einmal geschlossen, vollständig mit dem Rumpf verschmolz. Innen befand sich ein Sitz, auf dem man sich festschnallen konnte, nein, musste. Denn hatte die Patrone erst einmal eine Stadt verlassen, schoss sie mit so ungeheurer Geschwindigkeit über die Wasserstraßen Illusions, dass einem Hören und Sehen verging. Tatsächlich wusste man meist erst am Zielort, dass man die Reise gut überstanden hatte.
    Stella legte ihre Hand auf die Patronenluke und diese öffnete sich wie von Geisterhand. »Rein da«, sagte sie energisch zu Sesa Mina, der das gläserne Ding offenbar nicht recht geheuer war. Das Frettchen sprang dann aber doch von ihrem Arm auf den Sitz und suchte sich im Heck ein sicheres Plätzchen. Stella warf ihren Rucksack in das Wasserfahrzeug und stieg hinterher.
    Nachdem ihr Gepäck verstaut und sie selbst sicher angeschnallt war, zog Stella einen kleinen Zettel aus der Tasche, auf dem nur ein einziges Wort geschrieben stand: Amico.
    Neben ihrem Sitz befanden sich mehrere kleine mit einer klaren Flüssigkeit gefüllte Glaszylinder. Die Röhrchen waren allesamt mit Stopfen verschlossen, die gleichfalls aus Glas bestanden. Stella rollte den Zettel mit dem Namen ihres Reiseziels zusammen, öffnete den ersten Zylinder und steckte das Blatt hinein.
    Sie konnte zusehen, wie sich das Papier in der klaren Flüssigkeit auflöste. Zugleich wurde der Inhalt des Röhrchens so strahlend blau, wie es die Tinte des Namenszuges allein niemals hätte bewirken können. Das war alles. Die Patrone würde nun sicher und ganz von selbst vor die Mauern des Zielortes gelangen. Ein einziger Gedanke reichte schon aus, um das Gefährt in Bewegung zu setzen. Wie Stella nach ihrer Ankunft allerdings in die Stadt

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