Das Netz der Schattenspiele
solideres Gebilde. Das Frettchen hatte sich als Ort der Schatzsuche den gedrungenen Turm ausgewählt, der Stella schon vor der Stadt aufgefallen, aber im Vergleich zu den glitzernden Zwillingstürmen eher wie ein hässlicher Gnom vorgekommen war. Nun ließ sich eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Gebäude nicht mehr vermeiden.
Das Bauwerk musste zu den ältesten der Stadt gehören. Es war aus unregelmäßig geformten Steinen errichtet, auf denen hier und da orangefarbene Flechten wuchsen. Die Fassade sah verwittert aus. Um den Turm herum erstreckten sich kleinere Anbauten, längliche ziegelgedeckte Häuser mit vergitterten Fenstern, die an dem großen Burgfried hingen wie säugende Junge an den Zitzen des Muttertiers. Nachdenklich betrachtete Stella das Schild neben dem breiten Eingangsportal:
KATASTERAMT DER STADT AMICO
Ganz langsam bemächtigte sich Stella ein Gefühl der Hilflosigkeit. Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte an der mit einem Mal gar nicht mehr so langweiligen trutzigen Fassade empor. Sie bestand aus Felsbrocken, die man der Erde unter dieser Stadt entrissen hatte. Amico war nämlich eine Juwelensucherstadt. Glücksritter und seriöse Minengesellschaften hatten sich hier nebeneinander angesiedelt. Die meisten Schürfer waren im Besitz eines mehr oder weniger großen Claims, durften also allein oder in Zweckgemeinschaften einen ausgewählten Bereich der Stadt durchwühlen.
Da es außerhalb von Illusions Ortschaften kein Leben gab, musste alles und jedes in den Städten hergestellt, angebaut und gefördert werden. In Enesas weitläufigem Stadtgebiet gab es Felder und Wälder und hier erstreckte sich ein nicht zu ermessendes Labyrinth aus Stollen und Gängen durch die geduldige Erde.
»Weißt du eigentlich, dass diese Stadt der reinste Kaninchenbau ist?«, schwärmte das Frettchen.
Stella konnte noch immer nicht den Blick von dem Schild neben der Tür nehmen. »Das scheint dir auch noch zu gefallen.«
»Ich bin schließlich ein Iltis!«
»Gut, dass du mich daran erinnerst.«
»Was soll das nun schon wieder heißen?«
»Iltisse sprechen nicht, kein Marder tut so etwas. Halt also bitte mal einen Moment deine Schnauze. Ich muss nachdenken.«
Ohne Frage – zu diesem Schluss gelangte Stella gleich zu Beginn ihrer Überlegungen – wurden wohl in diesem Katasteramt nicht nur die Verzeichnisse für Gebäude und Grundstücke über der Erde geführt. In einer Edelsteinsucherstadt musste sich hier auch die Claim-Verwaltung befinden. Allmählich begriff Stella das ganze schreckliche Ausmaß ihrer Aufgabe und mit einem Aufseufzen verschaffte sie ihrer Verzweiflung Luft.
»Wie sollen wir jemals in diesem hässlichen Stummel von Turm ein einzelnes Wort finden? Oder auch einen Spruch?« Sie warf die Hände in die Luft und ließ sie sofort wieder wie Sandsäcke herabfallen.
Eine Zeit lang herrschte Stille. Zweimal gingen Männer in den Turm hinein, wild aussehende Gesellen, deren Kleidung nur aus verschiedenen übereinander gelagerten Staubschichten zu bestehen schien. Einmal kam einer wieder heraus. Sonst passierte nichts.
Schließlich platzte es aus Stella heraus. »Kannst du denn nicht auch mal was sagen, Mina? Ich denke, du bist die Spürnase von uns beiden.«
»Du hast mir ja die Schnauze verboten.«
Stella schloss die Augen und stöhnte. »Ich wusste nicht, dass du so empfindlich bist. Entschuldige bitte.«
Sesa Mina antwortete nicht.
»Was ist denn noch?«
»Ruhe, ich denke nach.«
Stella ignorierte die Retourkutsche. Sie ließ das Frettchen einfach auf der Treppeneinfassung sitzen und marschierte in den Turm hinein.
Von innen wirkte das Bauwerk noch größer, was Stella nun fast auch den letzten Rest an Mut nahm. Hinzu kam ein beängstigendes Zwielicht, das einem Kerker nicht schlecht zu Gesicht gestanden hätte. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen aber an die dämmrige Umgebung und sie bemerkte zu ihrer Linken einen hölzernen Verschlag, aus dem ein menschliches Antlitz hervorleuchtete.
Wieder hallten die Worte aus dem Brief des Lindwurmbund-Großmeisters durch Stellas Geist… noch vermögen wir Euch zu empfehlen, Euer Vertrauen einem der Einwohner Amicos zu schenken, um Euch auf diese Weise Hilfe zu verschaffen. Stella seufzte. Was sollte sie tun? In ihrer Verzweiflung fasste sie einen Entschluss, den sie – und wenn auch nur, um ihr Gewissen zu beruhigen – als einen strategisch motivierten Kompromiss ansah. Im Schach opferte man schließlich auch hin und
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