Das Netz der Schattenspiele
außerhalb des Kabinetts streifen. Dabei zermarterte sie sich über diesen Drachen den Kopf. Er war ihr vertraut, aber sie wusste weder weshalb noch woher.
Plötzlich hörte sie ein neues Kratzen. Es kam von links. Stella stürzte hin. Da war ein riesiger Schatten, viel größer als sie selbst. Doch obwohl diese Beobachtung beklemmend genug war, blieb sie dem Schemen weiter auf den Fersen.
Stella stieg über einen Haufen Pergamentrollen hinweg und trat leise in einen anderen Raum. Er war viel geräumiger als das Archiv für die geschlossenen Claims. Regale reihten sich an den Wänden zu beiden Seiten und breiteten sich in die Mitte aus, bis dort nur noch ein schmaler Gang blieb. Diesen nahm Stella.
Leise und sehr langsam schritt sie ein Regal nach dem anderen ab, spähte in einen büchergesäumten Quergang und ging weiter vor. Auch hier gab es in der Decke eine vergitterte Öffnung, durch die mattes Tageslicht fiel. Genug, um einen Drachen entdecken zu können.
Je weiter sich Stella in den Raum vorarbeitete, desto unruhiger wurde sie. Jeden Moment musste sie diesem Wesen begegnen, das vor ihr die Flucht ergriffen hatte. Langsam, ganz langsam nur, schlichen sich unangenehme Fragen in ihren Kopf. Was machte sie eigentlich hier? Hieß es nicht in dem Brief des geheimnisvollen Herrn X, sie solle das »unheilvolle Getier unschädlich machen«? Wie oder womit sollte sie das anfangen? Sie hatte nicht einmal ihren Knüppel dabei, geschweige denn eine Lanze oder eine andere traditionelle Drachentötungswaffe. Gewiss würde auch ein junger Millenniums-Drache, wie der Bote des Großmeisters dieses unheimliche Geschöpf bezeichnet hatte, sich zu wehren wissen. Stella zweifelte daran, ihn so einfach mit einem Folianten erschlagen zu können. Dennoch rückte sie weiter vor.
Aus einem Regal ragte eine besonders lange Schriftrolle, deren beide Enden an zwei langen Hölzern befestigt waren. Stella zog das Dokument leise heraus und erwählte es sich zu ihrer Lindwurmwaffe. Was hatte der blau-grüne Geck noch über diesen Wurm gesagt? Wenn er erst zu vollem Wuchs gekommen sei, würde er über das Reich Illusion herfallen und es nachhaltig verwüsten. Stella war nicht verzärtelt und schreckhaft wie die Mädchen der feinen Gesellschaft. Sie hatte sich schon oft aufdringliche Gesellen mit schlagkräftigen Argumenten vom Hals geschafft. Irgendwie würde sie auch diesem Jungdrachen das Handwerk legen!
Es blieben nur noch zwei Quergänge. Stellas Herz klopfte irgendwo in ihrem Hals. Zweifel überkamen sie. Warum hatte sie den Lindwurm »Draggy« genannt? Woher kam diese Erinnerung? War es wirklich richtig, den Drachen zu töten? Vielleicht gab es auch noch eine andere Lösung.
Als Stella die letzte Regalreihe erreichte – Sesa Mina war die ganze Zeit dicht hinter ihr –, erhob sie ihre Pergamentrolle wie einen Dreschflegel hoch über den Kopf.
»Komm heraus, Draggy«, rief sie in gebieterischem Ton. Wenn es nötig war, würde sie mit dem Drachen kämpfen, aber…
Der Angriff erfolgte mit so überwältigender Heftigkeit, dass Stella zu keiner Gegenwehr fähig war. Mit einem Riesensatz war der Lindwurm über ihr – und auch schon wieder verschwunden.
Stella hatte sich instinktiv geduckt. Der Drache, für sie nur ein formloser Schatten, war mit ausgebreiteten Flügeln einfach über sie hinweggesprungen und jagte jetzt durch die Regalreihen davon. Sie wirbelte herum und blickte ihm hinterher. Dabei bemerkte sie einen hellen rechteckigen Fleck auf dem Rücken des Schemens… Und schon war der Drache wieder aus ihren Augen verschwunden.
Anstatt nun aufzugeben, wie es vielleicht ein anderer getan hätte, setzte Stella dem Untier nach. Jetzt war sie in ihrer Ehre verletzt. So schnell, so einfach wollte sie sich nicht geschlagen geben.
Draußen auf dem Flur sah sie zu ihrer Rechten noch einmal den herzförmigen Drachenschwanz aufblitzen, bevor er hinter einer Biegung des Ganges verschwand. Sie stürzte hinterher.
Nun entspann sich eine Verfolgungsjagd, in deren Verlauf Stella unfreiwillig die meisten Räume des Kellerarchivs kennen lernte. Dabei hatte sie nur den einen Gedanken: Sie musste den Drachen fassen!
Noch einmal sah sie das Schwanzende Draggys hinter einer Biegung verschwinden und setzte ihm nach. Durch eine offen stehende Gittertür gelangte sie in einen großen Raum, jenem ähnlich, in welchem sie der Drache beinahe überrannt hatte. Schon glaubte sich Stella am Ziel. Diesmal würde sie das Tier nicht entkommen
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