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Das Netz der Schattenspiele

Titel: Das Netz der Schattenspiele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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nach einem der schwebenden Tischplatten, dabei stieß sie ein Glas um. Den Protest der blonden Besucherin in ihrem kurzen, nun befleckten Tüllröckchen nahm sie kaum noch wahr. Um die Übelkeit zu vertreiben, schloss sie die Augen und schüttelte den Kopf. Doch als sie wieder einigermaßen sehen konnte und auf ihren eigenen Arm blickte, wirkte dieser beängstigend durchsichtig. Erst glaubte Stella, sie selbst begänne sich in Luft aufzulösen, doch dann bemerkte sie, dass auch die Einrichtung und die Gäste des schwarzen Etablissements vor ihren Augen durchscheinend wurden. Hinter allem schien sich eine schwarze Leere aufzutun. Stella kniff noch einmal die Augen zusammen und schüttelte sich wie ein nasses Frettchen. Diesmal half die seltsame Prozedur. Sie konnte wieder klar sehen.
    Dafür kehrte der Anblick des unsteten Schemens zurück, und mit ihm die Angst. Die finstere säulengleiche Wolke – mehr war diese Erscheinung ja nicht, die Elektra so begeistert herbeifieberte – befand sich nur noch drei oder vier Tische von Stella entfernt. Panik ergriff sie. Und sie rannte davon.
    Bevor noch Elektra etwas hatte sagen können, war Stella schon auf die Straße hinausgelaufen. Ihre goldene Plakette hatte sie dem massigen Oper Ator einfach vor die Füße geworfen. Sie nahm gleich die Gasse, die dem Eingang der Schwarzen Sonne gegenüberlag. Stella fühlte sich verraten, verletzt. Warum hatte Elektra sie nicht wenigstens vorgewarnt? Na gut, sie kannte den Dunklen Lauscher. Möglicherweise wusste sie auch Dinge über ihn, die mehr Licht in seine finstere Erscheinung bringen konnten. Aber dafür war es nun zu spät.
    Während Stella noch gleichermaßen gegen ihre im Widerstreit liegenden Gefühle wie auch gegen die beunruhigende Übelkeit ankämpfte, machte sie eine schlimme Entdeckung. Lorenzo della Valle war wieder da.
    Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: Der schwarzhaarige persönliche Sekretär des Statthalters von Enesa suchte sie und niemand anderen. In ebenjener leicht ansteigenden Gasse, die Stella so unbedacht genommen hatte, lehnte er lässig an einer Hauswand und beobachtete das Geschehen vor der Schwarzen Sonne. Aus seiner Position konnte er den Eingang des großen Gebäudes im Auge behalten, ohne selbst zu früh gesehen zu werden. Seine Taktik schien aufzugehen. Er stieß sich von der Wand ab und kam geradewegs auf Stella zu.
    Diese blickte sich verängstigt um. »Der Kerl ist wieder da. Was soll ich machen, Mina? Zurück zur Schwarzen Sonne laufen?«
    »Ja, aber nur ein Stück«, antwortete das Frettchen.
    »Was? Wieso?«
    »Tu, was ich sage!«
    Stella gehorchte. Schon nach etwa zwanzig schnellen Schritten – sie hörte wie della Valles Stiefel hinter ihr auf das Pflaster knallten – rief Sesa Mina: »Da links. In den Hauseingang mit den goldenen Löwenklopfern.«
    Ohne weiter zu fragen, stürzte Stella in das besagte Haus.
    »Den Riegel!«, rief das Frettchen.
    Stella sah den wuchtigen Verschluss, eine Art fest montierter Schlüssel. Sie drehte ihn mit aller Kraft herum. Kaum war das Schloss mit einem metallischen Geräusch eingerastet, da rüttelte auch schon jemand an der Tür.
    »Lauf nach hinten durch«, sagte Sesa Mina hastig.
    Stella rannte. Sie kam durch eine kleine Eingangshalle und platzte mitten in ein Kammerkonzert hinein. An diesem Ort, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Schwarzen Sonne, waren die Leute einiges gewohnt. Ein Mädchen mit einem langen Speer und einem sprechenden Pelzkragen hätte ihnen normalerweise nicht einmal ein müdes Heben der Augenbrauen abgenötigt. Hier aber, im eigenen Musikzimmer, mitten im dritten Satz der Sonate, war ein solches Auftreten mehr als ungehörig.
    Ehe noch der Hausherr – ein ziemlich großer Mann, dessen wenige Haare eine beträchtliche Länge besaßen und wie ein Vogelnest um seinen Kopf drapiert waren – seinem Unmut und damit dem der versammelten Gesellschaft Ausdruck verleihen konnte, war Stella auch schon quer durch das Musikzimmer geeilt. Ihr Speerschaft streifte dabei die Saiten einer großen Konzertharfe und verliehen ihrem Auftritt eine sphärische Note. Dann war sie im Garten verschwunden.
    »Da vorne ist eine Lücke in der Hecke«, dirigierte sie Sesa Mina. »Und dahinter wieder eine Gasse.«
    Stella schlug die besagte Richtung ein. Als sie das Grundstück der Musikliebhaber verlassen hatte, blieb sie kurz stehen, um sich zu orientieren. Erneut wurde vor ihren Augen alles durchsichtig. Sie atmete tief, nahm die letzte Kraft zusammen und

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