Das Netz der Schattenspiele
das anstellen?«
»Ganz einfach. Indem ich dem Feuer den Nachschub abschneide. Alle Feuerwälle Illusions sind aus einem seltenen, porösen Mineral errichtet, das seinen flüssigen Brennstoff aufsaugt wie ein Kerzendocht. Sobald jedoch der Nachschub ausgeht, erlischt das Feuer.«
»Für ein Frettchen bist du wirklich gescheit, aber für diese Aufgabe viel zu klein. Den Hahn, den du bei einer so gewaltigen Mauer zudrehen musst, stelle ich mir riesig vor. Und selbst wenn dir das gelingt – bis aller Saft im vollgesogenen Mauerwerk aufgebraucht ist, werden bestimmt Stunden vergehen.«
»Das lass nur meine Sorge sein«, sagte Sesa Mina so selbstsicher, als spräche sie von der Kaninchenjagd. Mit einer weiteren Aufforderung an Stella, zu warten und sich nicht von der Stelle zu rühren, entschwand das Frettchen erneut.
Die Wartezeit wurde für Stella zu einer Tortur. Zweimal noch überkam sie der Schwindel und jedes Mal wurde es schlimmer. Als Sesa Mina endlich wieder erschien, drang deren Stimme wie durch einen Ballen Watte an Stellas Ohr.
»Geschafft. Nun lass uns schnell zum Wassertor fahren. Es kann nämlich gut sein, dass sie alle Stadttore schließen, sobald die Mauer erlischt.«
Stella gehorchte. Sie konnte kaum noch klar denken. Das Schwindelgefühl hatte sich in ihrem Kopf mittlerweile häuslich eingerichtet. Noch konnte sie gegen die Auflösungserscheinungen ihrer Umwelt angehen, allerdings nur unter Aufbietung der ganzen Willenskraft. Aber wie lange noch?
Die Patrone reihte sich gerade in die Warteschlange vor dem Wassertor ein, als unter dem runden Bogen der Durchfahrt Unruhe ausbrach. Die normale Geschäftigkeit auf den Molen des Binnenhafens, die man schon von außen beobachten konnte, verwandelte sich innerhalb kürzester Zeit in einen wahren Hexenkessel. Die Veränderung im Umfeld der Stadtmauer war nun für jedermann sichtbar. Die Flammen wurden kleiner und das helle gelbe Glühen der Steinquader wandelte sich zu einem schnell dunkler werdenden Rot.
Die Nachricht breitete sich wie ein Lauffeuer aus, fraß sich in Windeseile durch Enesas Straßen und Gassen. Menschen rannten durcheinander. Sie schrien, als schicke sich eine feindliche Armee an, die Stadt zu stürmen. Andere ließen Gegenstände fallen, die sie eben noch mit großer Umsicht getragen hatten: Tuchballen aus Seide, Kisten voll teuren Porzellans, Dokumente mit verräterischem Gedankengut…
»Jetzt!«, rief Sesa Mina, als auch die in Blech gekleideten Wachen von dem ganzen Tohuwabohu abgelenkt waren.
Stella sammelte ihre letzten Kräfte und zwang sich zu einem Gedanken, der ihre Patrone nach vorne schießen ließ. Noch bevor die anderen Wartenden ihre Chance begriffen hatten, glitt sie durch das Wassertor und steuerte den nächstgelegenen Ankerplatz an.
Nach Hause. Nur dieser eine Gedanke beschäftigte sie noch. Sie wollte raus aus all dem Geschrei, der Panik und sich ausschlafen. Mit Mühe gelang es ihr, sich aus der Patrone zu befreien, und benommen stolperte sie durch die Gassen Enesas. Wie von weit her hörte sie Sesa Minas fortwährendes Rufen – »Hier, Stella! Du musst einen Fuß vor den anderen setzen! Komm, ich bin bei dir!« –, aber es fiel ihr immer schwerer, diesen Anfeuerungen Folge zu leisten.
An der Einmündung zum Marktplatz blieb Stella stehen, die Hand an eine Hausecke gestützt. Ihr Hals wollte den Kopf nicht mehr tragen, er hing schwer nach vorn. Sie atmete wie eine alte Frau nach einem Dauerlauf. Gleichzeitig fühlte sie eine lähmende Kälte in ihre Glieder kriechen. Alles um sie herum schien zu Eis gefroren zu sein.
Verzweifelt kniff sie die Augen zu, öffnete, schloss sie erneut und riss sie wieder auf. Der Brunnen in der Mitte des Platzes war kaum noch zu erkennen und die Häuser dahinter versanken endgültig in der dunklen Tiefe eines Ozeans, der auch sie zu verschlingen drohte.
Noch einmal bäumte Stella sich gegen die Ohnmacht auf. Sie löste ihre Hand von dem Mauerwerk und stolperte ein, zwei Schritte vorwärts. Doch vergeblich. Sie konnte ihr Haus nicht mehr erreichen. Unvermittelt schwoll in ihren Ohren ein Rauschen an, so laut wie das einer sturmgepeitschten Meereswoge. Dann verlor sie die Besinnung.
BEOBACHTUNGEN
Alban Cesare DiCampo verfolgte Stellas erste Reise durch den Cyberspace mit sichtlicher Genugtuung, Mark dagegen immer noch mit Skepsis. Von dem Augenblick an, da ihr Kopf unter dem VR-Helm verschwunden und bald darauf ihr Körper merklich erschlafft war, hatte er
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