Das Netz der Schattenspiele
wirklich – noch einmal erlangte sie den klaren Blick zurück.
»Jetzt nach Hause, Mina. Auf dem schnellsten Weg.«
»Aber dieser della Valle ist immer noch hinter uns her. Warum bleibst du nicht stehen und stellst dich ihm gleich hier und jetzt? Gegen deinen neuen Speer wird er wenig ausrichten können.«
»Nein«, presste Stella angestrengt hervor. »Es geht nicht… geht nicht mehr.« Wieder löste sich die Umgebung vor ihren Augen auf. »Ich habe nicht mehr die Kraft dazu. Wir müssen zurück… zum Hafen… nach Enesa…«
Ein erneuter Schwindelanfall packte sie. Und wieder wurden Häuser und Straße auf beunruhigende Weise durchsichtig. Später hatte sich Stella nie erinnern können, wie es ihrem kleinen Frettchen gelungen war, sie zur Patrone zurückzuführen. Die Anfalle häuften sich: Alles um sie herum schien aus Glas zu bestehen und hinter den durchscheinenden Häusern und Menschen sah sie eine große grauschwarze Fläche, undurchdringlich wie ein dunkler Ozean, aber doch von unermesslicher Tiefe.
Auf dem Weg nach Enesa kreisten Stellas Gedanken fast ununterbrochen um die zurückliegenden Ereignisse. Sie hatte so viel verkehrt gemacht, so vieles falsch eingeschätzt. Das plötzliche Erscheinen des Lindwurms, die Jagd durch die Kellerräume und das Auftauchen des wabernden Schemens hatten sie überstürzt handeln lassen. Genauso hier in Blaxxun. Sie hätte Elektra wenigstens die Möglichkeit geben sollen, ihre Bekanntschaft mit dem Dunklen Lauscher zu erklären.
Und dann dieser Lorenzo della Valle! Was wollte dieser Kerl nur von ihr? Sein Benehmen deutete nicht gerade auf vornehme Absichten hin. Sonst hätte er sie anrufen können, sie bitten, stehen zu bleiben. Aber nein, er stellte ihr nach wie ein Strauchdieb! Auf der Suche nach einer Erklärung für dieses seltsame Benehmen musste sie wieder an den blau-grünen Boten des Lindwurmbund-Großmeisters denken. Es gebe auch Anhänger des Lindwurms, die sich von einem Vernichtungsfeldzug des Ungeheuers Vorteile versprachen, hatte er geraunt. Konnte es sein, dass della Valle und sein Herr zu diesen irregeleiteten Drachenfreunden gehörten? Ließ der Statthalter Stella deshalb beschatten? Ja, gab es vielleicht sogar den Plan, mit allen Mitteln zu verhindern, dass sie das Nest des Lindwurms entdeckte und dem Treiben dieses Schuppenwesens ein Ende setzte?
Angesichts ihres desolaten Zustands konzentrierte sich Stellas ganze Wut nun auf den persönlichen Sekretär des Statthalters von Enesa. Sie war beileibe nicht jähzornig, aber sie hätte in diesem Augenblick aus ihrer Patrone springen und irgendetwas Törichtes anstellen können, um ihrem Ärger ein Ventil zu verschaffen. Das wäre natürlich reiner Selbstmord gewesen. Also sann sie auf eine andere Möglichkeit, um es dem enesaischen Statthalter und seinem Zuträger della Valle heimzuzahlen. Und die sollte sich schneller als erwartet bieten.
In der Ferne tauchten gerade die lodernden Mauern Enesas auf. Stella bekämpfte einen weiteren Anfall, der sich, wie sie inzwischen gelernt hatte, jedes Mal durch ein Schwindelgefühl ankündigte. Als es ihr wieder besser ging, sagte sie zu dem Frettchen in ihrem Schoß: »Ich habe keine Kraft mehr, mich jetzt noch stundenlang von diesen Kontrolleuren vorführen zu lassen. Kannst du mir das irgendwie ersparen, Mina?«
Das Frettchen hob interessiert den Kopf. »Enesa ist besser geschützt als jede andere Stadt, aber mir wird schon was einfallen.«
Stella lenkte ihre Patrone in den Graben, der hier wie in fast allen Ansiedlungen Illusions die Stadt umgab. Nachdem sie die Luke ihres Gefährts geöffnet hatte, sprang Sesa Mina ins Freie. Sie versprach bald wieder zurück zu sein.
Das Frettchen hatte bemerkt, wie es um seine Herrin stand. Deshalb kehrte es wirklich schon nach kurzer Zeit wieder zurück. Stella war währenddessen wiederholt einer Ohnmacht nahe gewesen. Jedes Mal verschwamm die brennende Stadtmauer vor ihren Augen und das Meer der dunklen Tiefe dahinter kam immer näher.
»Ich habe auf die Schnelle keine Hintertür gefunden, die groß genug für dich wäre, aber ich habe eine andere Idee«, berichtete das Frettchen.
»Lass hören, Mina. Ich halte nicht mehr lange durch.«
»Wir können die Stadtmauer löschen.«
»Was willst du tun?«
»Wenn die Mauer nicht mehr brennt, wird es ein schönes Durcheinander geben…«
»Und kein Kontrolleur kümmert sich mehr um die Wassertore«, vollendete Stella den Gedanken ihres Frettchens. »Aber wie willst du
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