Das Netz der Schattenspiele
Abkürzungen fließend vorlas, als stünden diese tatsächlich im Klartext auf einem Schriftstück. Oftmals nahm er nicht einmal wahr, dass er nur ein Akronym vor Augen hatte. In ungefähr derselben Weise – nur im Wachtraum um vieles phantasievoller – musste Stellas Unterbewusstsein die Reize verarbeiten, welche ihr die Sinnesorgane übermittelten.
Um die Mittagszeit erstarrten plötzlich alle Anzeigen und mit ihnen Mark.
»Was ist passiert?«, fragte er erschrocken DiCampo.
Der Projektleiter lächelte ihm beruhigend zu. »Keine Sorge, Professor. Stella schläft nur.«
»Sie schläft?« Mark war sich nicht sicher, was DiCampo damit meinte. Wohin auf der Skala zwischen Wachen und Träumen hatte sich Stella gerade bewegt?
»Nun, genau genommen träumt sie nur, dass sie schläft. Ein völlig normaler Vorgang. Wir haben ihn auch schon bei anderen Cybernauten beobachtet.«
»Und wie lange kann so etwas dauern?«
»Erfahrungsgemäß fünfzehn bis dreißig Minuten.«
»Nicht sehr viel, um sich zu erholen.«
»Für Stella wird es wie eine ganze Nacht sein.«
Mark erinnerte sich und nickte. »Stimmt, über dieses Phänomen habe ich ja letztens mit Agaf gesprochen.«
DiCampos Lippen umspielte ein zufriedenes Lächeln. »Für den Fall, dass Stella ihre neue Umgebung sicher beherrscht, habe ich ein Ergänzungsprogramm entworfen. Sie hat ihren ersten Test wirklich bravourös gemeistert! Bin gespannt, wie sie jetzt unsere kleine Zusatzaufgabe anpacken wird.«
Mark runzelte die Stirn. »Ich möchte auf keinen Fall, dass Sie ihr in ihrem ersten Wachtraum zu viel aufbürden.«
»Sie unterschätzen Ihre Tochter, Professor. Wir haben sie gebeten, sich einmal im Netzwerk der Australian Mining Company umzusehen.«
»Der Minengesellschaft, bei der letzte Woche die Abraumtransporter Amok gefahren sind?«
»Genau die. Unsere Spezialisten konnten in den Überresten der Computerprogramme nicht mehr finden als Ihre Kagee -Identifikation, Professor. Inzwischen wurde in Australien ein großer Teil der Daten auf einem Ersatzsystem rekonstruiert. Ich bin gespannt, ob Stella mehr findet als wir.«
»Wissen die Australier von diesem Besuch?«
Ein hinterhältiges Grinsen stahl sich auf DiCampos Lippen. »Selbstverständlich nicht. Ich wollte doch sehen, wie gut Ihr ›Generalschlüssel‹ ist.«
Der Übereifer DiCampos gefiel Mark nicht. Der Italiener erinnerte ihn an einen Porzellanverkäufer, der zwar die Kinder seines Kunden wegen ihrer Lebhaftigkeit in den Himmel lobt, aber dann dennoch heilfroh ist, sie endlich aus dem Geschäft zu haben. Vielleicht hegte ja der Intruder-Projektleiter wegen der ihm aufgezwungenen »Öffentlichkeit« gegen jedes UN-Teammitglied einen persönlichen Groll, bestimmt aber gegen die unbequemen Kalders. Das wäre eine Erklärung, weshalb er Stella so durch das Testprogramm peitschte.
Mark wollte DiCampo gerade eine passende Antwort geben, als sich ihm von hinten eine Hand auf die Schulter legte. Er zuckte zusammen und fuhr herum.
Agafs zernarbtes Gesicht strahlte ihn an. »Entschuldigung, Mark. Eigentlich wollte ich Sie zu einem Kaffee einladen… Stella schläft doch gerade. Wie wär’s?«
Mark zögerte.
»Kommen Sie.« Agafs Hand klopfte auf den Rücken des zaudernden Vaters. »Sie machen mir einen ziemlich verkrampften Eindruck. Etwas Ablenkung wird Ihnen gut tun, und bis Stella aufwacht, sind wir wieder zurück.«
Um das jähe Ende der Unterhaltung mit DiCampo tat es Mark nicht Leid, aber sollte er Stella wirklich allein lassen? Unsicher blickte er nach links, wo Kimiko saß. »Würden Sie mich hier bitte eine Weile vertreten?«, fragte er spontan.
Kimiko nickte lächelnd. »Kein Problem, Mark. Wenn sich irgendetwas ergibt, lasse ich Sie rufen.«
»Danke, Kimiko. Vielen Dank!«
Mark erhob sich von seinem Stuhl und folgte Agaf auf den Flur. »Kimiko ist schwer in Ordnung«, sagte er, sobald sie außer Hörweite waren.
Der Nigerianer hob beide Hände und wedelte wie ein Varieteetänzer mit den Fingern. »Sie besitzt eine schillernde Persönlichkeit, ist manchmal schwer zu durchschauen. Aber sind das Frauen nicht immer? Ich habe mit Kimiko schon bei früheren Projekten zusammengearbeitet und kann sagen, dass sich hinter ihrer asiatischen Verschlossenheit eine Menge Qualitäten verbergen: Sie ist eine exzellente Spezialistin für Computerkriminalität, versteht es, Menschen richtig anzupacken, und hat, kurz gesagt, auch das Herz am rechten Fleck.«
»Ich glaube, Sie haben Recht, Agaf.
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