Das Netz der Schattenspiele
stieß er den ersten Gang hinein und bog mit aufheulendem Motor auf das Grundstück. Er parkte den Wagen – schneller als sonst – in der Garage, und während er durch den Garten zum Haus eilte, spielte er verschiedene Szenarien des zu erwartenden Empfangs durch.
Er hatte Stella versetzt, so viel stand fest. Und das nicht zum ersten Mal. Sie würde nicht gerade bester Stimmung sein. Wenn er in einer solchen Situation das Haus wie üblich gut gelaunt und federnden Schrittes betrat, dann machte er das Ganze nur noch schlimmer. Vielleicht war es besser, sich leise anzuschleichen und den Überraschungsmoment zu nutzen. Er konnte möglicherweise auf Gnade hoffen, wenn er sogleich ein Geständnis ablegte.
Ein Rahmen aus Sandstein, etwa einen halben Meter breit, umgab die Haustür. Zu Marks Rechten war in das weiche Gestein eine Edelstahlplatte mit verschiedenen Öffnungen eingelassen. Es handelte sich um SESAM, den elektronischen Pförtner. Mark positionierte sich vor einem kleinen viereckigen Fenster, hinter dem ihn ein Kameraauge anlinste. Normalerweise hätten nun rechts daneben eine Reihe von Leuchtdioden seine Identifizierung anzeigen müssen, doch keines der roten Lämpchen erwachte zum Leben.
Mark seufzte. In letzter Zeit bereitete das biometrische Zugangssystem immer häufiger Schwierigkeiten. Immerhin war es so ausgelegt, dass es den Zugang zum Haus auch dann freigeben musste, wenn von den drei möglichen Merkmalen mindestens zwei erkannt wurden. Neben dem Gesicht des Ankömmlings gehörten dazu auch die Stimme und die Lippenbewegungen beim Aussprechen einer bestimmten Parole. Noch war Mark zuversichtlich, dass SESAM ihn nicht im Stich lassen würde.
»Sesam öffne dich«, sagte er gelöst.
Nichts tat sich. Die Leuchtdioden blieben dunkel.
»Sesam öffne dich!« Eine gewisse Verärgerung schwang nun in seiner Stimme mit.
Der Torwächter hatte auf stur geschaltet. Die mit einer Glasfüllung versehene Haustür blieb geschlossen.
»Nun mach schon auf!«, blaffte Mark das ihn gleichgültig anstarrende Auge in der Edelstahlplatte an, das sich durch seinen Ärger jedoch nicht beeindrucken ließ.
Mark verkniff sich einen Fluch. Gute Laune musste er nun jedenfalls nicht mehr unterdrücken. Er stocherte in der Brusttasche seines Sakkos herum und förderte einen schweren Schlüsselbund zutage. Unbeholfen bohrte er den Schlüssel in das Schloss und öffnete die Tür.
Die Maisonne ergoss sich in die Diele. Der Schatten von Marks hoch gewachsener Gestalt zeichnete sich deutlich auf dem Terrazzoboden ab. Er lauschte. Von oben, aus Stellas Zimmer, drang nicht der geringste Laut herab. Wenn sie nicht gerade Hausaufgaben machte oder sich ernsthaft mit ihrem Computer beschäftigte, liebte sie es, die Leistungsfähigkeit ihrer Stereoanlage zu erproben. Doch alles war still. Das Haus wirkte verlassen.
Plötzlich ertönte eine Stimme von links, von der Küche oder dem Esszimmer her.
»Salomon? Bist du das?«
Also war Stella doch zu Hause! Jetzt hieß es, Ruhe bewahren.
»Hast du etwa jemand anderen erwartet?« Mark biss sich auf die Unterlippe. Das klang provozierend.
»Wie wäre es mit Mutter?«, kam Stellas prompte Antwort.
Der Hieb saß. Mark musste unbedingt mit Stella über Viviane sprechen. Er betrat langsam das Esszimmer, einen lang gezogenen Raum, ganz in Kirschholz gehalten, an der Außenwand flutete das Licht durch drei eher kleine Fenster. Von Stella fehlte jede Spur.
»Bist du in der Küche, Sternchen?«
»Kannst mich ja suchen kommen.«
»Was soll das, Stella? Ich weiß, dass du mir böse bist. Du hast auch allen Grund dazu. Aber sollte ich nicht wenigstens die Chance zu einer Verteidigung bekommen?«
Mark lauschte, aber es kam weder eine Antwort noch war da die Geräuschkulisse, die sich gewöhnlich immer dann erhob, wenn Stella an einem ihrer ungesunden Snacks herumbastelte. Er ging an dem langen rötlichen Tisch vorbei auf die Küche zu.
»Stella? Findest du nicht, jeder Angeklagte hat ein Recht auf eine faire Verhandlung?«
Mark betrat die Küche. Sie war leer. Auf der Arbeitsplatte in der Mitte des Raumes waren Reste eines furchtbaren Gemetzels zu sehen, das einem Salatkopf, einigen Tomaten und mehreren hart gekochten Eiern das Leben gekostet hatte. Obwohl er auch Spuren von Schinken, Salami, Majonäse und anderen Zutaten entdeckte, schloss Mark – nun doch etwas beruhigt –, dass Stellas Laune wahrscheinlich noch nicht ihren Tiefpunkt erreicht hatte. In solch einem Fall wäre er mit
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