Das Netz der Schattenspiele
Kostümierung der Cyberworm-Mannschaft bereitete Stella tatsächlich Kopfzerbrechen, und dass sie sich ausgelaugt wie nach einem Marathonlauf fühlte, ließ sich auch nicht ignorieren. »Es wird schon nicht so schlimm werden«, wiegelte sie ab, ohne allerdings recht überzeugt zu klingen.
»Ich weiß nicht. Hat der Dunkle Lauscher wirklich gesagt, er wolle dich retten?«
»Ja, hat er. Er kennt den Intruder. Aber warum der gefährlich sein soll, das wollte er mir nicht verraten.«
Mit Unbehagen dachte Stella an ihr Erwachen aus dem letzten Traum. Eigentlich hatten die Leute in ihren Robin-Hood-Kostümen ja ganz komisch ausgesehen, aber… Sie verdrängte das Bild. Das war vorbei und es ging ihr ja auch schon wieder ganz gut.
In emotionaler Hinsicht hatte Stella jedoch immer noch zu kämpfen. Die Vermischung von Realität und Illusion im Wachtraum gehörte wohl zu dem Verwirrendsten, was ihr jemals passiert war. Das erste Mal hatte sich diese Desorientierung bei der Betrachtung der enesaischen Turmbauten eingestellt – um nicht zu sagen, sie wie ein Dieb hinterrücks angefallen – und später just in dem Augenblick überrascht, als der Dunkle Lauscher das Wort »Intruder« ausgesprochen hatte.
Im Grunde genommen hatte sie sich ja unbedingt an ihr hiesiges Leben im Wachtraum erinnern wollen, doch die Vehemenz, mit der diese Gedanken sich dann in Illusion bemerkbar gemacht hatten, bestürzte sie doch.
Zu dieser fast schon beängstigenden Entwicklung kamen schließlich noch die Andeutungen des Lauschers. Seine Äußerungen waren stets von einer Aura des Geheimnisvollen umgeben. Stella blickte auf den Auszug des Reiseprotokolls, der neben ihr auf der Bettdecke lag. Erst vor wenigen Minuten hatte sie es gelesen. Schon seltsam, wie knapp und steril ihre farbigen Erinnerungen darin wiedergegeben wurden.
Lauschers Warnungen vor den Herren Enesas waren an die Adresse der NSA-Leitung gerichtet, galten insbesondere Alban C. DiCampo, dem Herrn des Feldes. Der oberste Kriegsrat von Illusion war das Pentagon, aus dessen militärischer Führungsriege auch die wichtigsten NSA-Beamten stammten. Die Operationen der Agency entzogen sich praktisch der Kontrolle des amerikanischen Kongresses. Vielleicht könne der Präsident ihr noch auf die Finger klopfen, aber selbst das sei fraglich. Die NSA habe schon viele Präsidenten der USA überlebt.
Und dann – Stella haderte noch immer mit sich selbst, ob diese Entscheidung richtig gewesen war – hatte sie dem Dunklen Lauscher die Adresse und den Verschlüsselungscode von Vivianes »E-Mail-Briefkasten« verraten. Ihre Mutter sei die Tochter des bekannten Rechtsprofessors Karl Kessler und der kenne Leute bis in höchste Regierungskreise, sogar den Präsidenten, der einmal sein Student gewesen sei. Ihrer Mutter könne wahrscheinlich einen dieser alten Kontakte wiederbeleben und die Person dahinter zum Handeln bewegen. Wenigstens hatte Lauscher versprochen vorsichtig zu sein. Wenn Viviane ihm wirklich helfen könne, dann würde er sie IRL, im wirklichen Leben, aufsuchen. Stella hatte Salomon schon ihr leichtsinniges Vorgehen gebeichtet und der hatte sie beruhigt. Vivianes E-Mail-Konto lief über die Adresse in Berlin und der so genannte Open PGP Key zum Verschlüsseln privater Nachrichten ließ sich jederzeit ändern.
Beim Vergleich der Passagen aus dem Reiseprotokoll mit ihren Traumerinnerungen hatte Stella mehrmals ungläubig den Kopf schütteln müssen. Wenn sie die Geheimsprache, der auch der Lauscher mächtig war, übersetzte, dann erkannte sie einzelne Dialogfetzen fast wortwörtlich wieder. Andere Gesprächsabschnitte erschienen seltsam nüchtern, wenn sie an die betreffenden, von Gefühlen beherrschten Wortwechsel zurückdachte. Drei- oder viermal hatte sie die ersten Sätze aus dem Private Chat Room gelesen.
Listener: Das ist wahr. The Dark Listener geistert durch das ganze Netz. -=#:-)
Schnuppe: Bin *entsetzt*. 8-0
Listener: Wir sind uns schon einmal begegnet, nicht wahr?
Schnuppe: (:-(
Listener: Es war im Server der Australian Mining Company.
Schnuppe: *Elektra*, wie kannst du ihm nur vertrauen? (:-&
Elektra::-) Lauscher ist in Ordnung, Schnuppe. Das kannst du mir glauben. Er steckt zwar überall seine Nase rein,:›) aber dafür ist er auch der größte Hacker der Welt. ;-)
Es war erstaunlich, was ihre Phantasie aus diesen Zeilen gemacht hatte. Sie legte den Kopf schräg. Vor allem die schlichten Smileys faszinierten sie. Daraus waren im Wachtraum ernste
Weitere Kostenlose Bücher