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Das Netz der Schattenspiele

Titel: Das Netz der Schattenspiele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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bisher zu sehr um die Details gekümmert und dadurch nie die nötige Distanz erlangt, um das ganze Bild zu erkennen.
    Stella harpunierte mit der Gabel ein Möhrchen und ließ es in ihrem Mund verschwinden. Sie glaubte schon längst nicht mehr an die NSA-Pistole von einer politischen Extremistengruppe. Ihre Erfahrungen mit Draggy, ihre Abenteuer in Illusion – das alles gab ihr ein schwer zu beschreibendes Gefühl, dem Lindwurm ganz nahe zu sein. Wenn ihr in Masinof nur nicht die Kräfte geschwunden wären! Sie hatte den Drachen im Server des MIT schon fast gestellt.
    Natürlich, sie wusste, wie bedenklich diese ganze Intruder-Geschichte war. Kimiko hatte von ihrem Gespräch mit Dr. Gerrit berichtet. Salomon war daraufhin so wütend geworden, dass er sich den Projektleiter am liebsten ein zweites Mal vorgeknöpft hätte, doch Agaf und Kimiko war es mit viel gutem Zureden gelungen, ihn davon abzuhalten. Selbst mit einem bühnenreifen Tobsuchtsanfall hätte er nicht mehr erreichen können als Agaf mit seinem Ultimatum.
    Bevor Salomon weitere Schritte gegen den Italiener unternahm, wollte er hieb- und stichfeste Beweise haben. Deshalb verfasste er, sobald sein Puls wieder ruhiger schlug, eine neue E-Mail an Valentin Braitenberg. Der Hirntheoretiker möge ihm doch sagen, welche Folgen eine durch Enzyme hervorgerufene Stimulierung der Nervenzellenverbindungen haben konnte. Waren gar Langzeitschäden zu befürchten? Auch wenn Stella nie mehr an den Intruder angeschlossen würde, musste Salomon die Antwort auf diese Fragen wissen.
     
     
    DiCampo war in den folgenden Tagen wie ausgewechselt. Als Stella ihm am Donnerstagmorgen in der Kantine über den Weg lief, lächelte er ihr sogar zu. Offenbar war der Projektleiter glücklich, endlich etwas gegen den Cyberwurm unternehmen zu können, selbst wenn die Erfolgsaussichten des Unternehmens relativ gering schienen.
    Die Totalabschaltung des Internets sollte am Freitag, dem 19. Juni stattfinden. Bis dahin war noch eine Menge Arbeit zu leisten. Die Operation Big Darkness hielt buchstäblich die Welt in Atem. Mancher dachte dabei wehmütig an Y2K – Year Two Kilo, das so genannte ›Jahr-2000-Problem‹, war ein Witz dagegen. Als Speicherplatz noch teuer war, hatte man die Computer zur Genügsamkeit erzogen, ihnen beigebracht, aus den Jahreszahlen jeden Datums nur die beiden letzten Stellen einzulagern. Dann erkannte ein kluger Kopf, dass die flinken Rechenknechte den 1. Januar 2000 unvermittelt zum Jahre Null erheben könnten und damit zum Beginn einer neuen Zeitrechnung. Die Doppelnull in der Jahreszahl würde sämtliche Elektronikfunktionen, die auf Zeitberechnungen basierten aus der Bahn werfen. Leider wusste niemand so genau, welche Geräte und Funktionen davon betroffen waren. Panik machte sich breit. Im Cyberspace herrschte Endzeitstimmung, und zwar in des Wortes ureigenstem Sinne. Virtuelle »Wunderheiler« verdienten sich in diesen Tagen mit ihren Softwaretinkturen eine goldene Nase. Zum ersten Mal war der internationalen Benutzergemeinde so richtig klar geworden, wie abhängig sie von ihren elektronischen Helferlein waren. Und doch: Hersteller und Betreiber von Computersystemen hatten sich zum Teil jahrelang auf das Jahrtausendproblem vorbereiten können. Für die Operation Big Darkness blieben der Welt jedoch gerade mal drei Tage!
    Stella flößte ein Unternehmen, das ausgerechnet »Große Dunkelheit« hieß, von vornherein wenig Vertrauen ein. Sie musste unwillkürlich wieder an den Dunklen Lauscher denken. Aber Salomon erklärte ihr, dass Militärs, egal in welchem Land, niemals eine Aktion – sobald sie nur über den Einkauf von sechs Rollen Toilettenpapier hinausging – planten, ohne einen Codenamen dafür zu erfinden.
    In den ersten Stunden war Big Darkness vor allem eine in der Geschichte beispiellose Informationskampagne. Über Fernsehen und Rundfunk, Zeitungen und Magazine, schwarze Bretter und per Lautsprecherwagen sowie über das Internet wurde die eine Nachricht verbreitet: Schalten Sie sämtliche elektronischen Geräte in Ihrem Haushalt um Punkt acht Uhr abends für eine Stunde ab (natürlich war der konkrete Zeitpunkt auf die jeweilige Zeitzone abgestimmt).
    Big Darkness stieß erwartungsgemäß sofort auf Proteste und im Laufe der drei Vorbereitungstage entwickelte sich daraus ein wahrer Sturmlauf gegen die Behörden. Weltweit wurden Sorgentelefone und Internet-Hotlines eingerichtet, um verängstigten und aufgebrachten Bürgern Rede und Antwort zu

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