Das Netz der Schattenspiele
Solidarität groß geschrieben, aber leider auch Egoismus und Selbstsucht. Es gab eben immer einige, die aus der Not anderer noch ihren Vorteil zu ziehen suchten.
Für Stella waren die Tage bis zum Global Shutdown schwer zu ertragen. Mal besuchte sie ihren Vater, mal Benny, sie schaute bei Gwen und bei Kimiko vorbei, doch alle waren so eingespannt, dass es nie zu einem längeren Gespräch kam. Ohne konkrete Beschäftigung begannen ihre Gedanken wieder zum Beginn dieser ganz und gar unglaublichen Geschichte zurückzukehren. Nur weil sie ihren Spieltrieb nicht hatte zügeln können, wurden nun weltweit alle Computer abgeschaltet und damit womöglich neue Katastrophen ausgelöst. Das Kagee -Spiel mochte noch so harmlos sein, trotzdem fühlte sich Stella für diesen ganzen Schlamassel verantwortlich. Hinzu gesellte sich noch das Gefühl, unter der Intruder-Haube nicht alles Mögliche getan zu haben. Immer wieder musste sie an ihre letzte Reise durch den Cyberspace denken. Sie hätte den Lindwurm beinahe erwischt!
So harrte sie der Dinge. Rang mit ihren Gewissensbissen. War rundum unzufrieden. Selbst die Ermittlungen in Sachen DiCampo kamen zum Erliegen. Dann endlich war es so weit.
Freitag, 19. Juni, zwanzig Uhr. Bis auf eine Notbesatzung befand sich das gesamte Cyberworm-Team außerhalb von Bau 203. Die NSA-Leute, die das Labornetz und alle anderen elektronischen Geräte abschalten mussten, waren wie Taucher mit Sauerstoffflaschen ausgestattet worden, denn auch das Lüftungssystem des Bunkers würde nicht mehr arbeiten. Alle Computer wurden heruntergefahren. Schlagartig erloschen die Lichter. Nicht nur hier, weltweit breitete sich Big Darkness, die große Dunkelheit, aus. Das elektronische Herz der Erde hatte aufgehört zu schlagen.
Nach leichten Anlaufschwierigkeiten funktionierten die elektronischen Pförtner von Bau 203 wieder. Das Team fuhr in den Bunker hinab. Noch im Fahrstuhl sagte Agaf scheinbar ruhig zu DiCampo: »Nun, da Sie Ihre Operation durchgesetzt und auch verwirklicht haben, möchte ich Sie an etwas erinnern, Doktor. Ab jetzt beginnt meine Uhr zu laufen. Sie wissen, was ich meine. Am Montagabend möchte ich von Ihnen einen vollständigen medizinischen Bericht über die Intruder-Versuchsreihen haben. Sie dürfen diese Mahnung getrost als Ultimatum verstehen.«
DiCampos eben noch euphorisches Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. »Aber Mr. Nbugu, können Sie nicht vergessen, was hinter uns liegt, und sich über das freuen, was wir erreicht haben?«
»Montagabend, Doktor«, wiederholte Agaf ungerührt, um dann hinzuzufügen: »Und ob wir uns über irgendetwas freuen dürfen, das wird sich erst noch zeigen.«
Stella gefiel die Art und Weise, wie der Cyberworm-Leiter mit dem Italiener umsprang. Wieder unten im Bunker, verfolgte sie fasziniert das emsige Treiben der Kommunikations- und Computerspezialisten des Teams. Plätze wurden besetzt wie Gefechtsstationen in einem Atom-U-Boot. Viele hatten fest zugeteilte Aufgaben. Sie überprüften die ordnungsgemäße Arbeitsweise der unterschiedlichsten Systeme. Die überwiegende Zahl derjenigen, die an diesem Abend zum Dienst eingeteilt waren, sammelte jedoch Informationen.
Das Internet funktionierte noch nicht. Das lag an diversen Telefonnetzen, die den Betrieb noch nicht wieder aufgenommen hatten. Einige Computer in den Kommunikationsgesellschaften ließen sich nicht booten. Auch andere Rechner »bockten«. Erstaunlich, wie viele Systeme schon monate-, manchmal jahrelang liefen, ohne dass sich je jemand ernsthaft Gedanken über einen Funktionsausfall gemacht hatte.
Dann kamen allmählich die ersten Nachrichten herein. Zunächst nur tröpfchenweise. Hier tickerte ein Fernschreiber, dort klingelte ein Telefon. Je mehr Meldungen im Bunker eintrafen, desto klarer wurde das Bild von den Folgen der nur einstündigen Zwangspause.
Da viele die Anordnungen der Behörden einfach ignoriert hatten, war es mancherorts zu chaotischen Verkehrsverhältnissen gekommen. Eine nicht zu ermittelnde Zahl von Unfällen hatte Tote und Verletzte gefordert. Durch Fehlfunktionen blieben Aufzüge stecken, ereigneten sich Zwischenfälle in Chemiewerken, liefen zwei Frachtschiffe auf Grund, verweigerten Geldautomaten die Auszahlung der den Kunden abgebuchten Beträge, wurden Telefongespräche falsch vermittelt…
Wohl nicht alle Schwierigkeiten standen in unmittelbarem Zusammenhang mit der Totalabschaltung. Manche wären früher oder später sowieso aufgetreten. Aber jetzt
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