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Das Netz der Schattenspiele

Titel: Das Netz der Schattenspiele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Grunde ist es ganz einfach. Ihnen dürfte der ungefähre Aufbau des Gehirns ja bekannt sein. Es besteht aus etwa einhundert Milliarden Nervenzellen, den so genannten Neuronen. Jedes Neuron kann etwa eintausend oder sogar einhunderttausend Verbindungen zu anderen Neuronen herstellen. Die Gesamtanzahl möglicher Verknüpfungen in unserem Gehirn ist größer als die aller Kernteilchen im Universum. Natürlich ist das ein rein theoretischer Wert, weil selbst bei größter Vereinfachung für jede Verbindung ja mindestens drei Atome notwendig wären und somit…«
    »Oh, bitte«, unterbrach Kimiko den Mediziner und ertappte sich dabei, wie sie ausgerechnet bei diesem Thema ziemlich hirnlos lachte. »Mein Spezialgebiet ist Computerkriminalität. Ich bin nicht einmal eine Anhängerin des Konnektionismus wie Professor Kalder. Können Sie es für mich nicht noch etwas einfacher machen?«
    »Natürlich, entschuldigen Sie, Kimiko. Beim Sinnieren über unseren Denkapparat gerät selbst ein so abgebrühter Mediziner wie ich immer wieder ins Schwärmen. Ich will das Zustandekommen der Wachträume anders erklären, nämlich in den Worten von Sir Charles Scott Sherrington.« Der Doktor räusperte sich und wählte für seine Rezitation eine betont feierliche Stimme. »Das Gehirn ist ein verzauberter Webstuhl auf dem Millionen von blitzenden Schiffchen ein verwirrendes, aber stets sinnvolles Muster weben, das freilich sehr vergänglich ist.«
    »Wie schön!«, schwärmte Kimiko, als habe Gerrit ihr soeben ein Liebesgedicht vorgetragen.
    »Na ja, sagen wir, es gibt alle wesentlichen Fakten wieder: Unser Gehirn ist ein organisches Geflecht, in dem Gedanken in Form neuronaler Repräsentation von mehr oder weniger temporärer Persistenz entstehen.«
    »Ihre erste Erklärung hat mir aber wesentlich besser gefallen«, meinte Kimiko verwirrt blinzelnd.
    Gerrit lächelte verlegen. »Ich bin eben kein Poet. Aber ich will es Ihnen gerne noch etwas genauer erklären: Alles, was unsere Wahrnehmung und unser Denken ausmacht, beruht in Wirklichkeit auf bestimmten Verbindungsmustern im Gehirn. Die Erinnerung an eine Blume aktiviert im Wesentlichen dieselben Neuronen wie deren erster Anblick. Auch Traumbilder entstehen auf diese Weise.«
    »Und diese Muster messen Sie mit der Sonde?«
    Gerrit nickte. »Nicht nur das. Wir können auch die Bildung neuer Schaltungen stimulieren. Das hört sich einfacher an, als es in Wirklichkeit ist. Die Komplexität unseres neuronalen Webmusters besteht nämlich nicht allein in der Vielzahl der Verbindungen, sondern auch in deren Vielschichtigkeit. Der Informationsaustausch zwischen zwei Nervenzellen wird nicht einfach wie mit einem Lichtschalter an- und ausgeknipst. Es hängt von sehr fein abgestuften Aktivierungszuständen ab, ob ein Signal weitergeleitet wird oder nicht. Manchmal müssen viele Neuronen gleichzeitig feuern, damit der Schwellenwert erreicht wird, der das Signal auslöst. An den Verbindungsstellen der Nervenzellen, den so genannten Synapsen, laufen komplizierte chemo-elektrische Vorgänge ab, die ich Ihnen schon deshalb nicht im Detail schildern kann, weil wir sie noch immer nicht ganz verstehen.«
    »Und trotzdem konnten Sie den Intruder bauen?«
    »Das ist im Grunde genommen nichts Ungewöhnliches.« Gerrit lachte. Er hatte nun ganz seine Bedenken vergessen und schwelgte in dem Gefühl, sich vor einer schönen Frau produzieren zu können. »Die Menschen haben den elektrischen Strom entdeckt, lange bevor sie etwas von Elektronen wussten. Oder sie kannten den Nutzen von Medikamenten, noch ehe ihnen die Funktion unseres Immunsystems oder die Wirkung von Biokatalysatoren bekannt war. Damit wäre ich auch schon beim Kernpunkt meiner Aussage.«
    »Ach wirklich?«
    »Ja. Der Wirkstoff in Stellas ›Nasenspray‹, wie Sie es genannt haben, ist nichts weiter als ein synthetisches Enzym. Ich habe an seiner Entwicklung mitgewirkt.«
    »Dann sind Sie bestimmt stolz darauf. Wie wirkt denn dieser Katalysator?«
    »Er regt die Bildung von Nervenverbindungen im Gehirn an.
    Üblicherweise verstärkt er bereits vorhandene Muster, die normalerweise zu schwach sind, um im Wachzustand wahrgenommen zu werden. Wenn der Cybernaut aber mithilfe einiger anderer unterstützender Inhaltsstoffe des Sprays in diese besondere Art des ›Halbschlafes‹ fällt, von uns als Wachtraum bezeichnet, dann kann die NARS-Einheit seine gewissermaßen vorverdrahteten neuronalen Anschlüsse stimulieren.«
    »Können dabei auch neue Muster

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