Das Netz der Schattenspiele
erst erfuhren viele Menschen am eigenen Leibe, wie abhängig sie tatsächlich von der Elektronik geworden waren. Ja, so mancher fragte sich, wer denn nun wirklich wen beherrschte, der Mensch die Technik oder sie ihn?
Um Mitternacht wagte Alban C. DiCampo ein erstes Resümee. Im großen Konferenzsaal des Bunkers verkündete er vor versammelter Mannschaft: »Die Operation Big Darkness wurde von der überwältigenden Mehrheit der internationalen Staatengemeinschaft unterstützt. Obwohl es Opfer zu beklagen gibt, können wir zuversichtlich sein, dadurch eine Katastrophe von wesentlich größerem, ja ich möchte sagen, von apokalyptischem Ausmaß vermieden zu haben.«
Der Italiener verwöhnte die Zuhörer mit einer Kostprobe seines Temperaments. Zwar seien drei Stunden noch eine viel zu kurze Zeit, um von einem Erfolg des Unternehmens sprechen zu können, schwärmte er blumig, dennoch sei er so optimistisch wie lange nicht mehr.
Beinahe schon heiter berichtete er über einige noch bestehende Probleme.
Hier und da irrten Schiffe über die Weltmeere, weil die GPS-Satellitennavigation völlig unsinnige Daten lieferte. Auch waren noch immer einige Einsatzleitungen der Polizei lahm gelegt, was manchen Verbrechern Gelegenheit gab, Kassenräumen von Banken unangemeldete Besuche abzustatten. Einige Spekulanten, die bisher ihr Geld mit kurzfristigen Termingeschäften gemacht hatten, hätten Millionenverluste erlitten. In der Fertigungsstraße einer großen Automobilfabrik produzierte die Nachtschicht unter völliger Missachtung sämtlicher Kundenwünsche nur noch pinkfarbene Fahrzeuge. Ab und an hatten sich auch die Datenbestände großer Firmen einfach verflüchtigt, was die Unternehmen vor die Herausforderung eines kompletten Neuanfangs stellte. Aber sonst lief alles reibungslos.
Eine eigens zu diesem Zweck eingerichtete Telefon-Hotline der Vereinten Nationen (nicht ganz zufällig befand auch diese sich auf dem NSA-Gelände in Fort Meade) protokollierte alle Computeranomalien, die irgendwo auf der Welt gemeldet wurden. Ein erster Zwischenbericht der Abteilung ließ Hoffnung aufkommen: Kein einziger der bisher gemeldeten Störfälle wies die Handschrift des Cyberwurms auf.
»Lassen Sie die Champagnerkorken noch eine Weile in den Flaschen«, sagte Mark gequält. Die letzten drei Tage hatten ihn ausgelaugt und er konnte die gute Laune des Italieners, der die Leiden der Opfer und ihrer Angehörigen schon vergessen zu haben schien, kaum noch ertragen. »Ich bin genauso wie Sie überzeugt, dass der Cyberwurm seine dritte Entwicklungsphase abgeschlossen hat. Aber vielleicht schläft er nur. Möglicherweise haben wir nicht genug von seinen ›Nervensträngen‹ zerstört und er erwacht wieder.«
DiCampo winkte lachend ab. »Sie sind ein unverbesserlicher Pessimist, Professore. Aber ich bin Ihnen nicht böse. Sie haben in den letzten zweiundsiebzig Stunden viel für uns alle getan. Gönnen Sie sich erst einmal eine Mütze voll Schlaf. Morgen früh sieht die Welt dann auch für Sie ganz anders aus.«
Stella schlief am Samstagmorgen bis gegen neun Uhr. Niemand drängte sie. Keiner erwartete, dass sie unter die VR-Haube des Intruders schlüpfte. Sie fühlte sich ausgeruht und entspannt wie lange nicht mehr.
Salomon aß zum Frühstück Müsli und trank grünen Tee. Ein gutes Zeichen! Stella ermunterte ihn, sich für das Mittagessen einen grünen Salat mit Essig und Öl zu bestellen.
»Du willst dich wohl über mich lustig machen«, meinte Salomon lächelnd.
»Nur ein bisschen. Du hast in den letzten Tagen viel zu wenig gelacht.«
Salomons Gesicht wurde wieder ernst. »Gab auch wenig Anlass dazu. Ich wünschte, wir hätten die ganze Sache endlich hinter uns.«
»Du glaubst immer noch nicht an unseren Sieg, stimmt’s?«
»Ich habe da so meine Zweifel.«
»Also, DiCampo sagt, wir hätten die I-Bombe entschärft. Jetzt müssten wir nur noch die Terroristen kriegen. Gibt’s denn schon irgendwas Neues vom Dunklen Lauscher?«
Salomon schüttelte den Kopf und antwortete leise: »Kimiko und Benny haben alles versucht, um seine Identität zu lüften, aber bisher ohne Erfolg. In den üblichen Internet-Suchmaschinen ist er unbekannt. Auch im Usenet hat er sich nicht verewigt. Wüssten wir es durch die Reiseprotokolle und die virtuelle Ansichtskarte nicht besser, könnte man wirklich glauben, er sei nur ein Schatten aus deinen Träumen.«
In diesem Moment kamen Agaf und Kimiko in die Kantine. Salomon lud sie ein, sich mit an
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