Das Netz der Schattenspiele
zugewandten Gesichter. »Ich werde mit meinem Vater sprechen. Irgendwie fühle ich mich für all das hier verantwortlich. Bestimmt werde ich nicht kneifen, wenn wir die Sache mit meiner Hilfe zu Ende bringen können.«
»Heißt das, du willst dich noch einmal in den Cyberspace wagen?«, fragte Kimiko. Sie konnte sich noch recht gut an das Gespräch mit Dr. Gerrit erinnern.
Stellas Gesicht war ernst. Sie sah die Japanerin an, lächelte unsicher und wandte sich dann Agaf zu. »Ich mach’s. Ich gehe noch einmal nach Illusion.«
Es erforderte einiges an Überredungskunst, um Salomon die Zustimmung für den Einsatz abzuringen. Zuerst hatte er den Plan seiner Tochter in Bausch und Bogen abgeschmettert. Aber Stella war fest entschlossen. Sie ließ nicht locker und ganz langsam gab ihr Vater seinen Widerstand auf. Zwar hatten die Halluzinationen nach der zweiten Reise auch sie verunsichert, aber…
»Ich habe mir schon immer gewünscht, die Tochter von Robin Hood zu sein.«
»Sternchen! Es ist wirklich nicht die Zeit Späße zu machen. Nicht über dieses Thema. Valentin Braitenberg hat mir zwar noch nicht geantwortet, aber die Andeutungen des Dunklen Lauschers und das, was Kimiko aus diesem Gerrit herausgeholt hat, reicht mir schon, um dieses Unternehmen abzulehnen.«
»Und ich?«, erwiderte Stella erregt. Ihre Stimme zitterte. In den Augen glänzten Tränen. »Habe ich denn kein Recht, über mich zu entscheiden? Ich weiß genauso gut wie du, dass dieses Intruder-Dingsbums mir schadet, aber viele Medikamente haben auch ihre Nebenwirkungen. Trotzdem nimmt man sie in Kauf, in der Hoffnung, letztlich wieder gesund zu werden. Wir haben doch nur noch die eine Chance, dass ich nach Illusion zurückkehre und den Cyberwurm erwische, bevor er Amok läuft!«
Salomon wich dem Blick seiner Tochter aus. Er wusste, sie hatte Recht. Aber das Risiko erschien ihm trotzdem zu hoch.
»Ich muss es einfach tun«, sagte Stella. Sie trat zu ihrem Vater an den Schreibtisch und legte ihm den Arm um die Schulter. »Bitte, Paps! Selbst wenn es das Letzte wäre, was ich anfange, darfst du es mir nicht verbieten. Ich könnte nie mehr in den Spiegel sehen, wenn ich jetzt einen Rückzieher mache.«
Salomon seufzte. »Also gut.« Er zwang sich zu einem Lächeln.
Stella drückte ihrem Vater einen dicken Schmatz auf die Wange. »Hat DiCampo gesagt, wann wir nach Boston fliegen?«
»Morgen schon. Im Laufe des Vormittags. Wir nehmen wieder eine Militärmaschine. Sobald die gesamte Ausrüstung verladen ist, geht’s los.«
Als der Zaun des NSA-Areals hinter dem Bus immer kleiner wurde, fühlte sich Stella seltsam erleichtert. Erst jetzt wurde ihr so richtig bewusst, dass dieses umzäunte und streng bewachte Gebiet sehr viel Ähnlichkeit mit einem Gefangenenlager besaß. Doch das alles gehörte nun der Vergangenheit an. Entweder sie würden das Nest des Cyberwurms endlich aufspüren oder… Daran mochte sie lieber nicht denken.
Die Maschine wartete schon auf dem Rollfeld des Goddard Space Flight Center. Es war eine McDonnell Douglas C-17, ein riesiger Düsentransporter. Stella hätte nie gedacht, dass man für das Intruder-Equipment ein so großes Flugzeug benötigte.
Die schwere Maschine erhob sich mit lautem Getöse von dem Fliegerhorst östlich von Fort Meade. Aus großer Höhe konnte Stella noch einen letzten Blick auf das Gelände der NSA werfen. Sie würde hoffentlich nie mehr dorthin zurückkehren müssen. Ein tröstlicher Gedanke.
Knapp zwei Stunden später landete die C-17 auf dem Logan International Airport und rollte in einen abgesperrten Bereich abseits der Passagierterminals.
Stella, ihr Vater, Agaf und Kimiko gelangten durch den Sumner Tunnel ins Zentrum von Boston. Wegen einer Großveranstaltung – es war Sonntag – konnten sie nicht den John F. Fitzgerald Expressway hinüber nach Charlestown nehmen, sondern mussten sich durch den dichten Verkehr von Beacon Hill kämpfen. Als sie dann endlich auf dem James J. Storrow Memorial Drive waren, kamen sie wieder schneller voran. Entlang dem Charles River fuhren sie nach Westen bis zur Harvard Bridge und von dort hinüber nach Cambridge.
Obgleich dieser nach seinem englischen Vorbild benannte Ort ein selbstständiges Gemeinwesen war, sahen viele in ihm nur einen Bezirk von Boston, der Hauptstadt von Massachusetts. Viel bekannter war Cambridge jedoch durch seine beiden prominenten Hochschulen: der Harvard University und dem Massachusetts Institute of Technologies, kurz
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