Das Netz der Schattenspiele
den Tisch zu setzen. Um sie in das Gespräch mit einzubeziehen, fasste er die Unterhaltung mit Stella kurz zusammen.
»Das Aufspüren der Terroristen ist jetzt auch unser vorrangiges Ziel«, sagte Agaf nickend und berichtete von seinem bisherigen Tag.
Er war, wie jeden Morgen, um fünf aufgestanden und hatte den zusammenfassenden Bericht über Stellas letzte Reise studiert. Die Analytiker des Teams stimmten darin überein, dass der Cyberwurm mit hoher Wahrscheinlichkeit sein Nest im Campusnetzwerk des Massachusetts Institute of Technologies habe. Er selbst, Agaf, halte das ebenfalls für möglich. Deshalb hatte er um halb acht Kimiko zu einer Besprechung mit Alban C. DiCampo eingeladen. Eben die hätten sie gerade hinter sich gebracht.
»Und was meint der Italiener?«, erkundigte sich Salomon.
»Er hat vorgeschlagen, das MIT-Netz von der Außenwelt abzutrennen und dann gezielt die Rechner auf dem Campus nach dem Nest des Wurms – er nannte es das ›Stammhirn‹ – zu durchforsten.«
»Stammhirn?«, wiederholte Salomon kopfschüttelnd. »Dann scheint er ja das Großhirn inzwischen abgeschrieben zu haben.«
»Du etwa nicht?«
»Darüber hatte ich gerade mit Stella gesprochen. DiCampos ganze Selbstsicherheit beruht auf der einen Annahme, der Cyberwurm sei am Ende der Penetrierungsphase ähnlich wie das menschliche Gehirn organisiert: Wenn man also die Nervenverbindungen kappt, fällt auch die ganze Denkmaschine aus. Diese Analogie halte ich zwar für zulässig, aber wenn man sie aufstellt, dann muss man sie auch konsequent zu Ende denken.«
»Haben wir das etwa nicht?«, fragte Agaf verwundert. »Du hattest Dienstagnacht doch ebenfalls deine Zustimmung zur Operation Big Darkness gegeben.«
»Und seitdem habe ich viel nachgedacht. Im Internet bin ich außerdem heute früh auf eine bemerkenswerte Dokumentation von Professor Damasio gestoßen. Ich kenne Antonio persönlich, er leitet die Neurologische Abteilung des Iowa University College of Medicine. Er beschreibt in seinem Aufsatz ein Phänomen, das mir vor vier Tagen nicht mehr so geläufig war – immerhin liegen meine Forschungen im Bereich der neuronalen Netze schon einige Jährchen zurück.«
»Und was hat dich an Damasios Ausführungen speziell interessiert?«, fragte Kimiko.
»Die erstaunliche Tatsache, dass sich das Gehirn nach einer Schädigung wieder zu regenerieren vermag. Entsprechende Hirnverletzungen nennt man Läsionen. Sie können dazu führen, dass der Patient einen Teil seiner Erinnerungen verliert, den Arm nicht mehr richtig bewegen kann, blind wird oder die Fähigkeit einbüßt, sein Leben zu planen. Es gibt Hunderte von Symptomen. In zahlreichen Fällen hat man dann beobachtet, dass die Betroffenen ihre Behinderung nach einer gewissen Zeit wieder verloren. Sogar Erinnerungen, die durch die Läsion ein für alle Mal zerstört schienen, kehrten zurück. In mancher Hinsicht ist das Gehirn wie ein Hologramm: Die Einzelinformationen sind breit gestreut, nicht nur in einer Ebene, sondern gewissermaßen gestaffelt im Raum. Ein ›Kratzer‹ kann vielleicht die Oberfläche des Gesamtbildes beeinträchtigen, aber irgendwann rekonstruiert das Gehirn aus der Tiefe heraus seine Erinnerungen wieder.«
Agaf hatte erkannt, worauf Stellas Vater hinauswollte. »Du hältst also eine Rückkehr des Cyberwurms nicht nur für möglich, sondern sogar für wahrscheinlich.«
Salomon nickte.
»Du sprachst eben von ›einer gewissen Zeit‹. Weißt du es vielleicht etwas genauer?«
Stellas Vater hob die Schultern und zeigte seine geöffneten Handflächen. »Ich bin kein Prophet. Aber so viel weiß ich: Auf den Nervenbahnen in unserem Gehirn bewegen sich die Impulse mit zweihundertfünfzig Stundenkilometern. Im Internet erreichen sie dagegen – zumindest theoretisch – Lichtgeschwindigkeit.«
In diesem Moment kam Benny in die Kantine gelaufen. Er entdeckte den Tisch seiner Freunde und eilte zu ihnen.
»Draußen tut sich was«, sagte er aufgeregt.
»Inwiefern?«, fragte Agaf.
»Ich habe Townsend gesehen, auch Friedman, John McMulin und einige andere Leute aus DiCampos Team. Sie laufen durcheinander wie aufgescheuchte Hühner.«
Agaf sah Benny betroffen an. Jeder am Tisch ahnte, was hinter dieser plötzlichen Geschäftigkeit steckte. Noch bevor jemand etwas sagen konnte, schrillte die Sirene.
Von der Kantine im dritten Untergeschoss des Bunkers bis zum großen Konferenzsaal im ersten war es nicht weit. Aus sicherheitstechnischen Gründen lagen
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