Das Netz der Schattenspiele
MIT.
Stella hatte zum Unwillen des Fahrers das Seitenfenster heruntergekurbelt und atmete genüsslich die Bostoner Luft, als befände sie sich in einem Kurort. Mit großen Augen hielt sie nach Sehenswürdigkeiten Ausschau und frischte dabei die Erinnerungen von zwei früheren Besuchen auf. Sie teilte die Liebe ihres Vaters zu dieser Stadt.
Hinter der Brücke fuhr die unauffällige Limousine wieder am Charles River entlang nach Osten und bog kurze Zeit später in die Massachusetts Avenue ein. Vorbei am Hauptgebäude des MIT ging es bis zur Vassar Street. Hier hielt das Fahrzeug vor einem unscheinbaren lang gestreckten Bau. Der Fahrer, ein dunkelhaariger Mann mittleren Alters mit nichts sagendem Durchschnittsgesicht, geleitete seine Gäste in das Gebäude, das von innen viel größer wirkte als von außen. Bald sollte Stella auch erfahren warum. Der »Komplex 20« bestand aus insgesamt sechs Einzelgebäuden. Zwei davon berührten sich an ihren Stirnseiten, die übrigen standen quer dazu. Aus der Luft gesehen wirkte das Ganze wie ein Kamm mit vier Zinken. Im zweitletzten Bau, dem Building 20 d, war das Cyberworm-Team untergebracht.
Beim Betreten des Gebäudes fielen Stella Männer in dunklen Uniformen auf. Es handle sich um Angehörige der Campuspolizei, erklärte der Fahrer. Offiziell sei das ganze Bauwerk wegen Explosionsgefahr abgesperrt. Kleine technische Panne. Reine Vorsichtsmaßnahme. Das bisher ausdruckslose Gesicht des Fahrers verzog sich zu einem viel sagenden Grinsen.
Dem äußeren Schutzwall, er sollte Studenten und Professoren auf Distanz halten, folgte eine zweite Sicherungskette. Diese wurde vom Secret Service gebildet, Männern, deren Uniformen erst als solche erkennbar wurden, wenn sie geballt auftraten – die Beamten trugen ausnahmslos dunkle Geschäftsanzüge. Der Service war hier schon am vergangenen Abend wie ein Heuschreckenschwarm eingefallen. Die Männer hatten zunächst die Gebäude geräumt und anschließend mit einer umfassenden Überprüfung begonnen.
Zur Überraschung Stellas und ihrer Begleiter tauchte unvermittelt Walter Friedman aus einem Seitengang auf. Der Sicherheitschef des Intruder-Projekts begrüßte die Cyberworm-Mitglieder freundlich. DiCampo habe ihn als Verbindungsmann und »Interessenvertreter« der NSA hergeschickt. »Die Jungs der verschiedenen Geheimdienste sind sich untereinander nicht ganz grün«, erklärte er mit einem Augenzwinkern in Stellas Richtung.
Die tat so, als habe sie diese Vertraulichkeit gar nicht bemerkt. Friedman hatte während der vergangenen Tage fast ebenso durch Abwesenheit geglänzt wie der Rote John. Was konnte sie vom Sicherheitschef des Intruder-Projekts schon anderes erwarten, als dass er genau das tat, was er eben auch ganz offen zugegeben hatte? Friedman vertrat die Interessen der NSA und diese war für Stella gleichbedeutend mit Alban C. DiCampo.
Der Beamte verabschiedete sich schon bald wieder. Er müsse die Sonntagsruhe auf dem Campus nutzen, es gebe noch jede Menge Vorbereitungen für den nächsten Tag zu treffen. Winkend verschwand er in einem Flur.
Stella blickte ihm nachdenklich hinterher. Was Friedman wohl damit gemeint hatte, es gebe noch eine Menge zu tun? Heckten DiCampo und seine Schergen etwa schon wieder eine neue Intrige gegen sie und Salomon aus?
»Kommst du?«
Die Frage stammte von ihrem Vater. Er war schon einige Schritte vorausgegangen und hielt den Griff der Tür zum Nachbarbau in der Hand. Stella verscheuchte ihren Argwohn und setzte sich wieder in Bewegung. Im Vorübergehen las sie die Tafel neben der Glastür.
Electrical Engineering and Computer Science
Humanities
Arts
Social Sciences
»Computerwissenschaften?«
Salomon nahm die Reisetasche in die Linke und legte Stella den rechten Arm über die Schulter. »Ich kenne den Bau 20 d noch von früher. Wenn wir hinterher noch Zeit haben, zeige ich dir den Campus. Einverstanden?«
Stella nickte lächelnd. Die vielen Sicherheitsbeamten waren ihr ohnehin nicht geheuer.
Der Fahrer wies den Ankömmlingen ihre Quartiere im ersten Stock des Gebäudes zu. Sie mussten mit Provisorien vorlieb nehmen: mit Abstellkammern, Büros und Arbeitsräumen für Studenten, die für ihre Zwecke umfunktioniert worden waren.
»Dagegen war ja der Bunker das reinste Luxushotel«, beschwerte sich Stella, nachdem der Chauffeur sich empfohlen hatte.
Salomon stand ein seliger Ausdruck im Gesicht. »Nicht wahr! Hier habe ich die schönsten Monate meines Lebens verbracht: bar jeden
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