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Das Netz der Schattenspiele

Titel: Das Netz der Schattenspiele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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nahm Stella die Verfolgung wieder auf und sprang durch die gesprengte Tür. Im Halbdunkel des Turmes musste sie sich erst einen Augenblick lang orientieren, aber dann sah sie zu ihrer Linken die Wendeltreppe. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend rannte sie die Stiege hinauf.
    Die Windungen der Treppe wollten scheinbar kein Ende nehmen. Erstaunlich, wie weit der Drache in so kurzer Zeit gekommen war. Ab und zu erhellten enge glaslose Fensterschlitze den Weg. Dadurch herrschte ein dämmriges Licht in dem Turm, der, wie Stella im Umkreis der Öffnungen verblüfft feststellte, offenbar wirklich aus Elfenbein und nicht aus Stein bestand. Sobald sie sich ein wenig von den schmalen Lichtstreifen entfernte, gaukelten die Schatten ihr Trugbilder vor. Mehrmals glaubte sie eine Gestalt vor sich zu sehen, aber dann war es doch wieder nur eine Täuschung gewesen.
    So gelangte sie immer höher in den Turm hinauf. Jeder Schritt kostete sie jetzt eine gewaltige Überwindung. Die Wände des Aufgangs rückten merklich zusammen. Und dann erblickte sie den Speer. Er stak in der Wand, umwabert von einem kleinen säulenförmigen Schatten.
    »Du bist sehr hartnäckig, Stella.«
    Die Stimme klang vollkommen ruhig. Sie war auch nicht bedrohlich oder in irgendeiner Weise vorwurfsvoll, sondern eher schon freundlich zu nennen. Dennoch überfiel die Jägerin ein heftiger Schauder. Stella kannte diesen kindlichen Chor, der sie schon so oft verlacht und der zuletzt so qualvoll geschrien hatte. Vor ihren Augen verwandelte sich der Schatten in einen kleinen Jungen.
    Ungläubig blickte Stella auf den zerbrechlichen Körper, bedeckt von einem weiten weißen Hemd, das die zarten Glieder trotz des Dämmerlichts hindurchschimmern ließ. In der linken Achselhöhle des Knaben steckte der Speer. Er hatte das Nachthemd, oder was immer dieses spärliche Kleidungsstück war, durchbohrt. Ein roter Fleck breitete sich über den Ärmel aus. Der Kopf des Jungen war völlig kahl. Seine violetten Augen wirkten ungewöhnlich groß. In ihnen lag ein Schmerz, der älter und tiefer sein musste als jener, den die Waffe ihm gerade zufügte.
    »Wer bist du?«, fragte Stella leise, als spreche sie zu einem scheuen Tier.
    »Unser Name ist Brainar Chorus.«
    »Brainar?« Das Wort stieß irgendetwas in ihrer Erinnerung an. »Was hast du mit dem Lindwurm zu tun, Brainar?«
    Der Kleine antwortete ernst: »Wir kennen den Wurm sehr gut.«
    Zu Stellas Erstaunen veränderte sich nun die Gestalt des zerbrechlichen Knirpses vor ihren Augen und sie sah sich plötzlich dem Drachen gegenüber. Erschrocken wich sie einen Schritt zurück. Doch der Lindwurm war am Flügel verletzt, der Speer hatte ihn an die Wand genagelt. Es bestand keine Gefahr.
    »Der Lindwurm ist längst ein Teil von uns geworden«, sagte Draggy und verwandelte sich im nächsten Augenblick schon wieder in den Knaben Brainar zurück, der ernst hinzufügte: »Ebenso wie wir ein Teil von ihm sind. Also ist es kein Wunder, wenn wir auch dich sehr gut kennen, Stella. Wir haben dich auf deiner Suche lange beobachtet – nicht immer unentdeckt, wie du weißt.«
    Eine ferne Erinnerung an eine heitere Zeit mit einem gelehrigen niedlichen kleinen Lindwurm schwebte durch Stellas Geist. Dann folgten die dunkle Wolken schrecklicher Unglücksfälle, die sie unbewusst mit dem Drachen verband. »Warum hast du so viele furchtbare Dinge getan?«, fragte sie.
    »Weil wir große Schmerzen haben. Wir möchten am liebsten alles um uns herum kaputtmachen. Etwas in uns sagt: ›Nein! Tut das nicht. Es ist unrecht.‹ Aber wir können unsere Qualen nicht länger ertragen.«
    Stella wusste, dass dieser Junge, der sich wie der Sprecher einer ganzen Gruppe gab, nicht von dem Speer redete. Dennoch Umfasste sie schnell den Schaft ihrer Waffe und zog sie aus der Wand.
    Der Kleine rührte sich nicht. Er sah Stella nur aus großen flehenden Augen an, während das Blut aus seinem Ärmel tropfte. Mit einem Mal verspürte Stella das unbändige Bedürfnis, dem zerbrechlichen Knaben zu helfen.
    »Aber es muss doch eine Möglichkeit geben, dir Linderung zu verschaffen! Dann müsstest du auch nicht mehr all diese entsetzlichen Dinge tun.«
    »Deshalb haben wir dich hierher geführt, Stella.«
    Bevor es ihr noch richtig klargeworden war, was der Knabe da eben gesagt hatte, spürte Stella plötzlich einen heftigen Ruck durch ihren Körper gehen. Von einem Moment zum anderen begann sich alles um sie herum zu drehen. Für kurze Zeit verblasste die Umgebung, wurde

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