Das Netz der Schattenspiele
unbedingt loswerden. »Warum sprichst du immer in der Mehrzahl von dir? Also, du siehst mir nicht gerade wie ein König aus, von dem man so was ja gewohnt ist.«
»Wir haben dich hierher gerufen, um dir unser Geheimnis zu verraten. Komm.«
Ehe Stella noch etwas erwidern konnte, trat Brainar von der letzten Stufe und ging auf den Archivraum zu. Sie folgte dem Jungen. Das dünne Hemdchen flatterte um seinen schmalen Körper wie um einen Besenstiel.
Im Archiv griff Brainar gezielt nach einem kleinen, aber ziemlich dicken Buch. Er kippte es leicht an und schon schwang das Regal wie eine Tür knarrend auf.
»Wohin führst du mich?«, fragte Stella staunend.
»In das Reich unserer Schmerzen«, antwortete Brainar und trat in den weiten Durchgang.
Hinter Stella schloss sich die geheime Tür wieder wie von selbst.
»Lösche jetzt dein Licht«, sagte Brainar. »Du kannst unsere Hand nehmen, damit du nicht gegen die Wände läufst.«
»Warum können wir die Kerze nicht brennen lassen?«
»Weil wir nicht allein hier unten sind. Es wäre nicht gut, wenn sie uns entdeckten.«
Stella hätte gerne noch gefragt, wen Brainar mit »sie« meinte, aber der Junge gab ihr keine Gelegenheit dazu. Sobald sie die Kerzenflamme ausgeblasen hatte, ergriff er ihre Hand und setzte seinen Weg fort.
Irgendwie hatte Stella angenommen, die Haut des Jungen müsse kalt sein, aber die knöchernen Fingerchen strahlten eine lebendige Wärme aus. Während der Knabe sie den dunklen Flur entlangführte, musste sie daran denken, dass dieses zerbrechliche Wesen für den Tod vieler Menschen verantwortlich war. Doch sie zog ihre Hand nicht zurück. Nicht etwa, weil Brainar sie so fest gehalten hätte. Der wahre Grund lag vielmehr in der dumpfen Erkenntnis, mitschuldig an diesen Unglücksfällen zu sein.
Brainar nahm mehrere Abzweigungen und bald war sich Stella sicher, dass sie aus diesem finsteren Labyrinth ohne fremde Hilfe nie wieder herausfinden würde. Sie war dem Knaben ausgeliefert, was sie aber seltsamerweise nicht einmal störte.
Aus der Ferne drangen mit einem Mal Stimmen zu ihr. Sie klangen in dem Kellergang auffallend hohl. Brainar selbst hatte seit dem Verlöschen der Kerze kein einziges Wort mehr gesagt. Stella hörte, wie er leise eine Tür öffnete. Dann zog er sie in einen dunklen Raum hinein.
Als die Tür wieder ins Schloss fiel, sagte er: »Du musst deine Kerze nicht anzünden. Wir haben ausreichend Licht.«
»Was ist das hier?«
»Wir befinden uns im Historienarchiv von Geneses.«
Erst hörte Stella ein leises Rascheln und dann flackerte vor ihr plötzlich eine Flamme auf. Jedenfalls sah es so aus. Nun konnte sie erkennen, was Brainar gerade tat. Neben der Tür hing eine gläserne Röhre an der Wand, die der Junge kräftig mit dem Ärmel seines Hemdchens bearbeitete. Und je länger er über das Glas wischte, desto weiter breitete sich das Licht in der Fassung aus. Staunend bemerkte Stella, dass die Röhre sich über Wände und Decke durch den ganzen Raum erstreckte. Sie beschrieb dabei ein verwirrendes Muster, das nur dem Zufall entsprungen sein konnte.
Bald war der Raum hell wie von der Morgensonne erleuchtet. An den Wänden ragten bis zur Decke Bücherregale empor, nur durchbrochen von den gleißenden Lichtbahnen.
»Schon wieder eine Bibliothek«, bemerkte Stella stirnrunzelnd. Sie hatte sich unter dem Begriff »Historienarchiv« nicht viel vorstellen können.
»In Illusion spielt das Wissen eine wichtige Rolle. Hier wird alles aufbewahrt, was Geneses ist und was es jemals war«, antwortete Brainar mit unbewegter Miene. Er ging zu einem Tisch, an dem zwei Stühle standen, und erklomm den einen davon.
Stella folgte seinem Beispiel und setzte sich auf den anderen. So saßen sie sich nun gegenüber und blickten sich forschend in die Augen. Stella hätte gerne den Faden ihres anfänglichen Gesprächs wieder aufgenommen, doch irgendwie wusste sie, dass Brainar den Zeitpunkt hierfür selbst bestimmen wollte.
Nach einem Schweigen, das ihr ungewöhnlich lang erschien, sagte er auf einmal: »Es ist gut, dass du allein gekommen bist, Stella.«
»Deine Worte haben mir Angst gemacht«, gab sie freiheraus zu. »Es war allerdings nicht ganz leicht, meine Begleiter zurückzulassen.«
Brainar nickte. »Unser Leiden ist nur der eine Teil der Geschichte. Du kannst uns davon befreien. Bevor wir dich dazu auffordern werden, möchten wir dir das Geheimnis dieses Ortes anvertrauen.«
Stella beugte sich gespannt vor.
»Bereshit«, sagte
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