Das Netz der Schattenspiele
wirkte auch dieses Gebäude. Stella lauschte angestrengt, aber sie konnte nicht den geringsten Laut vernehmen. Schulterzuckend setzte sie die Erkundung des Palastes fort.
Sie verließ die Halle durch einen Flur, der dem Eingang direkt gegenüberlag. Gewissenhaft machte sie sich ans Abschreiten der vielen Türen, die hier beiderseits Spalier standen wie eine Ehrengarde zu ihrem Empfang. Dabei öffnete sie eine nach der anderen.
Die Räume dahinter waren ebenso prachtvoll wie vielgestaltig. Sie dienten den unterschiedlichsten Zwecken. Da gab es Schreibstuben und Bibliotheken, Schlaf- und Ankleidezimmer, Wohn- und Warteräume, Speise- und Audienzsäle. Zur Ausgestaltung der Räume waren die verschiedensten Materialien verwendet worden: kostbare Hölzer, seidene Tapeten, kunstvoller Stuck, perfekt bearbeiteter Stein und alles in den schillerndsten Farben. In einem Punkt jedoch glichen sich die Räume ausnahmslos: Sie waren menschenleer.
»Und jetzt?«, flüsterte Stella ihrem Kragen zu. »Nach oben oder unten?«
»Ich bin für den Keller.«
»Das hatte ich befürchtet.«
Stella folgte der Empfehlung ihrer Spürnase trotzdem. Den Weg in das Kellergeschoss hatte sie schon bei der Erkundung des Flures entdeckt. Die Tür unterschied sich von außen in nichts von den anderen. Fast hätte man denken können, der Hausherr bewahre im Untergeschoss seine kostbarsten Weine auf und wolle um jeden Preis verhindern, dass sich ein Gast allzu zielstrebig dorthin verlief.
Stella stieß jedoch auf alles andere als auf Wein. Wie prächtig sich auch der rosa Palast oben zeigte, hier unten erwies er sich als muffiges, dunkles Loch. Sie fand eine Kerze und zündete sie an. Im Schutze des gelben Lichtscheins tastete sie sich dann durch die Unterwelt.
Die einzelnen Kellerräume gaben ihr Rätsel auf. Einer schien das Labor eines Alchemisten zu beherbergen. Überall gab es Kolben, Zylinder und Spiralen aus Glas. An den Wänden reihten sich Regale mit Glas- und Tonbehältern. In einigen davon konnte Stella Kräuter, Frösche und seltsam geformte Wurzeln ausmachen – alles in getrocknetem Zustand. In einer weiteren Kammer entdeckte sie Ketten an der Wand. Die Tür stand zwar offen, aber das vergitterte Fenster darin ließ keinen Zweifel aufkommen, welchem Zweck dieses Gemach einst gedient hatte. Ein eisiger Schauer lief über Stellas Rücken und sie verließ die Kerkerzelle eiligst wieder.
Auch draußen auf dem feuchten Flur wollte das Frösteln sie nicht mehr verlassen. Wieder glaubte Stella den Augen eines heimlichen Beobachters ausgesetzt zu sein, doch die Schatten außerhalb des Lichtkreises waren undurchdringlich.
Dem Kerker schlossen sich mehrere Lagerräume an, dann kamen eine Tischlerei, eine Schmiede, weitere Materialspeicher, ein Raum mit verstaubten Büchern und Aktendeckeln und zuletzt eine Speisekammer, deren ehemaliger Verwendungszweck sich nur aus den leeren Weidenkörben, Schütten und beschrifteten Tongefäßen ableiten ließ.
Auch im Keller fehlte jede Spur von dem Lindwurm, dem Knaben oder sonstigen Hausbewohnern. Stella hob noch einmal die Kerze etwas höher, um in die verlassenen Räume zu blicken, deren Türen nun alle offen standen. Die einzige Bewegung, die sie dabei wahrnahm, war das Flackern der eigenen Kerzenflamme. Stella atmete erleichtert auf. Jetzt konnte sie sich ruhigen Gewissens wieder den lichteren Gefilden zuwenden. Sie war alles andere als traurig darüber. Fast heiter drehte sie sich zur Kellertreppe um – und erschrak gewaltig.
Erst stieß sie einen Schrei aus, und als sie einigermaßen sicher sein konnte, dass ihr Herz noch schlug, keuchte sie: »Brainar! Musste das sein?«
Der Junge stand unbeweglich wie eine Wachsfigur auf der untersten Stufe der Steintreppe. Stellas Aufkreischen hatte er ungerührt zur Kenntnis genommen. Sein Gesicht wirkte noch blasser, seine Haut noch durchsichtiger als bei der letzten Begegnung. Er trug das alte Hemd, auf dem der eingetrocknete Blutfleck unter der linken Achsel von Stellas Treffsicherheit zeugte. Als Brainar Chorus leise zu sprechen begann, konnte sie ihn anfangs kaum verstehen.
»Es ist schön, dass du gekommen bist, Stella. Wir danken dir.«
Langsam näherte sich das Mädchen dem Jungen. Seine violetten Augen leuchteten merkwürdig im Licht der Kerze. »Wie geht es deinem Arm?«
»Die Wunde, die du uns zugefügt hast, bereitet uns keinen Schmerz. Ganz im Gegenteil, sie hat uns bis jetzt am Leben erhalten.«
»Warum…« Stella musste diese Frage
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