Das Netz der Schattenspiele
Reithammer und Hartmann, war offenbar mit ihrer Zuträgerrolle für die Vereinten Nationen, repräsentiert durch die Amerikaner, ganz und gar nicht glücklich und hätte wohl lieber einen aktiveren Part in der internationalen Aktion übernommen.
Reithammer steckte Marks Bemerkung mit bayerischer Gelassenheit weg und verabschiedete sich von den Kalders und seinen amerikanischen Kollegen. Hartmann wiederholte die Prozedur mit ausdrucksloser Miene.
Kurz nach halb acht startete die Maschine. Von Berlin aus ging es zunächst nach Frankfurt am Main. Stella vertilgte im Flugzeug den Inhalt einer Plastiktüte, die sie am Flughafen Tegel mit einem Brötchen, einem Apfel und einem Schokoriegel gefüllt hatte, das erste Frühstück an diesem Tag. In der ganzen Hektik hatte sie überhaupt nicht ans Essen denken können.
Der Zwischenaufenthalt in Frankfurt dauerte knapp anderthalb Stunden. Als Stella zum Zeitvertreib in der Flughafenbuchhandlung herumstöberte, sprang ihr unvermittelt der Titel eines Taschenbuches ins Auge. Es handelte sich um ebenjenen Roman, von dem Jessica Pollock gesprochen hatte. Stellas Neugier war im Nu entfacht. Die Studentin hatte nicht erwähnt, welchem Zweck dieses ominöse Gebäude namens Black Sun eigentlich diente, das man mittlerweile auch im Internet besuchen konnte. Stella dachte an den vor ihr liegenden, stundenlangen Transatlantikflug und kaufte das Buch.
Bald darauf bestieg sie mit ihrem Vater und den beiden US-Bundesbeamten die Lufthansa-Maschine nach New York. Zu Stellas Erstaunen waren für sie Plätze in der ersten Klasse reserviert. Der BND habe ihn schließlich lange genug beschnüffelt, meinte Salomon dazu lakonisch. Jetzt, wo sein Land plötzlich auf ihn angewiesen sei, sei ein Erste-Klasse-Ticket wohl das Mindeste, um ihn gewogen zu stimmen.
Dank raubtierhafter Schnelligkeit hatte Stella beim Einchecken einen Fensterplatz erbeutet. Ihr Vater saß neben ihr. Soeben waren die Anschnallzeichen erloschen. Auf der anderen Seite des Ganges hingen Friedman und Finmore wie halbleere Mehlsäcke in den breiten Sesseln. Beide waren schon kurz nach dem Start eingeschlafen.
»Ich kann mir immer noch nicht so richtig vorstellen, wie das Internet den Fortschritt der ganzen Menschheit bedrohen kann«, sagte Stella und steckte sich eine Handvoll der Erdnüsse in den Mund, welche die Stewardess zuvor verteilt hatte.
Ihr Vater nahm die Brille ab und ließ die Unterlagen aus Reithammers braunem Umschlag auf den Schoß sinken. Während er argwöhnisch auf Stellas salzreiche Kost blickte, erwiderte er: »Die eigentliche Gefahr besteht genau genommen darin, dass wir in den verschiedensten Lebensbereichen absolut auf Computer vertrauen. Nicht nur unsere persönlichsten Daten stecken in den Dingern, sondern mittlerweile auch ein Großteil unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse – wenn man so will, das Gedächtnis der ganzen Menschheit.«
Stella musterte ihren Vater zweifelnd von der Seite her. »Ist das nicht ein bisschen übertrieben, weiser Salomon?«
Der lächelte. »Ein paar gedruckte Bücher gibt es noch, aber das Wissen, das notwendig ist, um die Räder unserer ›Weltenmaschine‹ am Laufen zu halten, wird fast schon ausschließlich in Datenspeichern aufbewahrt. Vielleicht ist das der Preis für unsere Wissenschaftsgläubigkeit: Jahrzehntelang dachten Regierungen, Wirtschaftsunternehmen und alle möglichen Organisationen nur daran, wie sie ihre Macht und ihren Einfluss durch den Einsatz immer höher entwickelter Computer und Netzwerke vermehren konnten, aber anscheinend haben sie dabei ganz außer Acht gelassen, dass sich im selben Maße auch ihre Verwundbarkeit erhöhte. Bei einem Totalausfall sämtlicher Computer befänden wir uns in einer vergleichbar üblen Situation wie der Mann mit Reifenpanne und ohne Ersatzrad mitten in der Wüste: Das tollste Auto ist nutzlos für ihn; er muss wieder zu Fuß gehen und kann erst nach einer langen Durststrecke auf Hilfe hoffen.«
»Und das ist dann die I-Bombe, wenn die Menschheit wieder auf Schusters Rappen ihres Weges zieht?«
»Das wäre die Folge ihres Einsatzes. In meinem Fachartikel über die I-Bombe habe ich den Daten-GAU, den größten anzunehmenden Unfall, beschrieben. Ich habe darin Überlegungen angestellt, was passieren würde, wenn eine bestimmte Gruppe – seien es nun Terroristen, eine radikale Regierung oder eine kriminelle Vereinigung – sämtliche Informationssysteme auszuschalten versucht.«
»Aber kann man denn nicht
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