Das Netz der Schattenspiele
warme Farben, die selbst die Anlage der NSA ein wenig freundlicher erscheinen ließen. Stella liebte diese Stunde, bevor die Sonne am Horizont versank, und sie liebte ihren Vater dafür, dass er diesen langen Augenblick jeden Tag mit ihr teilte. Natürlich hätte sie sich noch lieber zwischen ihren Eltern gewusst, so wie früher, als diese ihr, sie an ihren kleinen Händen haltend, eine Welt zeigten, in der noch fast alles neu war.
Der Versuch der Kontaktaufnahme mit Viviane durchs Iridium-Telefon war im Übrigen fehlgeschlagen. Von keinem Punkt auf dem gesamten Areal aus konnte Salomon einen der Iridium-Satelliten erreichen. Vermutlich lag das an einem Störsender, der es jedem etwaigen Eindringling unmöglich machen sollte, mithilfe eines Computers schnell größere Datenmengen aus der Anlage hinauszuschaffen.
Das völlige Abgeschnittensein von der Außenwelt, vor allem der beinahe ununterbrochene Aufenthalt in dem Bunker mit seinen drei Meter dicken Spezialbetonwänden, machte Stella sehr zu schaffen. Sie fühlte sich wie eine Strafgefangene unter verschärftem Arrest. Hinzu kamen die Alpträume.
Es war nun nicht mehr der Nussknacker, der sie in der Nacht schweißgebadet aus dem Schlaf fahren ließ, stattdessen quälten sie wilde Verfolgungsszenen. Mal stellten ihr fliegende Fische nach, deren Anblick allein ihr schon durch Mark und Bein ging, dann wieder hatten es Roboter mit hässlichen scharfen Kneifwerkzeugen auf sie abgesehen. Allen Verfolgern war eines gemeinsam: Sie trachteten ihr nach dem Leben.
Salomon machte den Mordanschlag für Stellas Alpträume verantwortlich, und das wiederum spornte ihn nur zu immer längerem und intensiverem Arbeiten an. Schon allein um Stellas willen wollte er dem Cyberwurm – und vor allem jenem gestörten Geist dahinter – so schnell wie möglich das Handwerk legen.
Während daher ihr Vater wie besessen an mehreren Computern gleichzeitig programmierte und testete, suchte Stella Zerstreuung in anderen Dingen. Abgesehen von dem Schmöker, den sie auf dem Frankfurter Flughafen gekauft hatte, frönte sie vor allem einer Ablenkung, die ihr gewissermaßen von höchster Stelle verordnet worden war. Wie sie bereits am Donnerstagmorgen erfahren hatte, wusste inzwischen sogar der Präsident der Vereinigten Staaten, dass alle Hoffnungen der internationalen Cyberworm-Einheit auf einem sechzehnjährigen Mädchen aus Berlin lagen. Er hätte wohl lieber einem hundertprozentigen US-Bürger in dieser überaus wichtigen Angelegenheit vertraut, doch die Sachzwänge ließen ihn schließlich dieser unpatriotischen Rollenbesetzung zustimmen. Immerhin – und das tröstete den Präsidenten ein wenig – war es ja die amerikanische Technologie, der die Menschheit schließlich ihre Rettung verdanken würde.
So wurde Stella also mit dem Segen des mächtigsten Mannes der Welt in die Geheimnisse des Intruder-Systems eingeführt. Außerdem brachte sie ihre Aufgabe auch auf andere Gedanken – der Schock des Attentats saß ihr wirklich tief in den Knochen.
Wie ein Astronaut nicht einfach in seine Rakete einsteigen und losdüsen kann, so müsse auch sie die Bedienung des Systems erst erlernen, erklärte eine brünette NSA-Ingenieurin, die auf den Namen Gwen hörte und mit Stellas Ausbildung betraut worden war. Der Intruder sei allerdings wesentlich einfacher zu handhaben als ein Space Shuttle, fügte Gwen mit strahlendem Lächeln hinzu. Sie hatte das Gemüt einer Kindergärtnerin: stets gut gelaunt, durch keine patzige Bemerkung ihrer Schutzbefohlenen aus der Ruhe zu bringen, oft ein fröhliches Liedchen summend. Und sie besaß die Figur einer Ringerin: fast einen Meter achtzig groß, vollbusig, breite Schultern und ebensolche Hüften. Ihre tiefe Stimme konnte donnern, aber auch sanft schnurren. Leuchtend blaue Lidschatten, knallroter Lippenstift und sattes Rouge setzten deutliche Landmarken in ihr Gesicht.
Zu Beginn des Trainings bekam es Stella aber dann doch mit der Angst zu tun, als ihr wirklich klar wurde, worauf sie sich eingelassen hatte. Die Schnittstelle zwischen dem Cybernauten und den riesigen Computern, die das Herz des Intruders bildeten, war eine Art Zahnarztstuhl. Und der Raum, in dem sich die verstellbare Sitz-Liege-Vorrichtung befand, strahlte den Charme einer Intensivstation aus. Er befand sich im sechsten Untergeschoss des Bunkers, in jenem Teil also, zu dem die Nicht-NSA-Mitarbeiter nur in Begleitung eines Intruder-Projektmitglieds Zugang hatten. Die Wände des Labors waren
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